Tonsüchtig - Die Wiener Symphoniker von Innen
Dokumentarfilm | Österreich 2020 | 94 Minuten
Regie: Iva Svarcová
Filmdaten
- Originaltitel
- TONSÜCHTIG
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2020
- Produktionsfirma
- Kurt Mayer Film
- Regie
- Iva Svarcová · Malte Ludin
- Buch
- Iva Svarcová · Malte Ludin
- Kamera
- Helmut Wimmer
- Schnitt
- Tom Pohanka · Joana Scrinzi
- Länge
- 94 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 0; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Perspektivenreicher Dokumentarfilm über Mitglieder der Wiener Symphoniker, die angesichts der Neubesetzung des Ersten Konzertmeisters Einblicke in ihr Berufsethos geben.
2019 endete nach 30 Jahren Florian Zwiauers Anstellung als Erster Konzertmeister der renommierten Wiener Symphoniker. Der Erste Konzertmeister eines Sinfonieorchesters fungiert als Vermittlerfigur zwischen den jeweiligen Dirigenten und dem Orchester und ist als solche eine Autorität, die die Möglichkeit hat, an der Gestaltung einer Aufführung aktiv mitzuwirken und so auch den eigentümlichen Klang eines Orchesters mit zu definieren. Als Zwiauers Karriere sich dem Ende zuneigt und das Orchester sich auf die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin macht, sind die beiden Filmemacher Iva Svarcová und Malte Ludin vor Ort, um den Prozess der Übergabe dieser bedeutsamen Funktionsstelle zu verfolgen. An Bewerberinnen und Bewerbern herrscht kein Mangel. Entscheidend ist der jeweilige Auftritt bei einem Probespiel, bei dem die jeweiligen, stets erstklassigen Musikerinnen und Musiker hinter einer Stellwand sich einem äußerst kritischen Gremium von erstklassigen Kolleginnen und Kollegen stellen müssen. Eine echte Herausforderung nach Jahren anderweitiger Berufspraxis im künstlerischen Hochleistungsfeld! Doch es geht nicht nur um die Kunst, sondern auch um das Soziale. Der Erste Konzertmeister muss dem Orchester liegen, muss es in jeder Hinsicht überzeugen.
Doch „Tonsüchtig“, das wird sehr schnell deutlich, ist weit mehr als die originelle Variante einer Castingshow auf seltsamem, nämlich hochmusikalischem Terrain. Svarcová und Ludin haben nämlich die günstige Gelegenheit des Vor-Ort-Seins genutzt und sich hinter den Kulissen der Wiener Symphoniker mal etwas genauer umgesehen. Mit außerordentlich sehenswerten Resultaten: Das Orchester ist zwar international erstklassig, aber der Reiz, Orchestermusiker zu werden, ist durchaus nicht die präferierte Fantasie von jungen Hochbegabten.
Ein Orchester als Hochleistungssport
Obwohl: bereits die ersten Minuten des Films, die eine Reihe unterschiedlicher Dirigenten und das Orchester kurz bei der Probenarbeit zeigen, stellen unmissverständlich klar vor Ohren, dass wir es hier mit bis in die Nuancen präzisem Hochleistungssport zu tun haben. Schnell wird klar, welch unerhörtes Glück es darstellen muss, Teil eines derartig perfekt aufeinander eingestellten Klangkörpers zu sein. Davon muss man doch einfach schwärmen! Und, klar, hier wird auch in die laufende Kamera geschwärmt.
Doch dann wird das Kollektiv aufgebrochen. Ganz unterschiedliche Musikerinnen und Musiker werden zu Wort gebeten und dürfen von ihrem familiären Background und dem Status, den Musik dort genoss, berichten, von ihren Ängsten und Nöten, von der Entscheidung, Berufsmusiker zu werden und deren Konsequenzen für den Alltag. Für ein paar Minuten in diesem Film treten sie aus dem Kollektiv heraus, dürfen sich als eigenständige Persönlichkeiten präsentieren und bereichern so – klug ausgewählt – den Film um komplexe Perspektiven auf die jeweilige Kunst. Wenn man Cellist bei den Wiener Symphonikern ist, dann nimmt das Instrument einen solchen Raum im Alltag ein, dass die eigene Familie gewissermaßen auch zum Teil des Orchesteralltags wird und umgekehrt – mit Konsequenzen, die an Untreue denken lassen und durchaus für Konflikte sorgen.
Es ist ein Glücksfall, welche Spanne an Perspektiven auf den „Organismus“ Orchester der Film in 90 Minuten zu entfalten versteht. Da gibt es das frisch verliebte Paar, das dasselbe Instrument spielt, im Orchester aus zumeist doch schon etwas älteren Herren nebeneinandersitzt, ständig Blickkontakt sucht und davon erzählt, dass Musiker in einer Beziehung über ein erweitertes Repertoire an emotionalem Austausch verfügen. Da gibt es den Posaunisten, der es vom Musikverein bis zu den Symphonikern gebracht hat und sich als „alpiner Wandersmann“ erdverbunden gibt, während eine Violinistin über die Vergleichbarkeit von Kommunikation im Orchester, Kommunikation zwischen Reiterin und Pferd und „Kommunikation“ zwischen der Musikerin und ihrem Instrument reflektiert. Da gibt es den Harfenisten, der sich sehr früh entscheiden musste, Berufsmusiker zu werden, weil sein Instrument für ein Hobby einfach viel zu teuer ist. Und dann steht noch eine große Frage im Raum, nicht nur für Florian Zwiauer: Gibt es ein Leben nach dem Orchester? Wie sieht ein „Danach“ aus? Eine wunderschöne Szene, in der Zwiauer sich als virtuoser Mentor zeigt, beantwortet diese Frage optimistisch.
Auch Scheitern und Versagen im Blick
Doch „Tonsüchtig“ beschränkt sich nicht auf das „große Gelingen“, sondern nimmt auch das Scheitern und Versagen in den Blick. Beim Probespielen um die Besetzung der Nachfolge von Florian Zwiauer, das sich wie ein roter Faden durch den Film zieht, gibt es eben auch die Musiker, die schnell aus dem Rennen sind. Eventuell bilanzierende Nachgespräche sind im Film nicht zu sehen. Fraglich, ob das Verfahren der Anonymisierung die Erfahrung des Scheiterns relativiert. Doch es gibt auch die Geschichte des Musikers, der plötzlich nicht mehr über die Mittel verfügte, das Niveau seines Spiels zu halten. Das Versagen und die Versagensängste potenzierten sich, bis es innerhalb des Kollegenkreises zum Thema wurde. Der Musiker, einst Erster Hornist, wechselte in den Job des Orchesterwarts; immerhin ergab sich diese Option, von der man nicht so recht weiß, ob man dies als sadomasochistische Volte werten soll. Aktuell verteilt er die Noten vor den Proben und ist für die Logistik zwischen den Proberäumen und dem Konzertsaal zuständig.
Schließlich aber wird auch die Stelle von Florian Zwiauer erfolgreich neu besetzt. Mit einer Frau! Große Freude auf allen Seiten. Inwieweit es sich der Film zurechnen kann, mit dieser auch 2019 noch immer nicht selbstverständlichen Entscheidung auch eine Lanze für mehr „Frauenpower“ gebrochen zu haben, sei dahingestellt. Eindeutiger verhält es sich mit einem Aspekt, der 2019 noch keines Wortes wert war, aber in Zeiten der Covid19-Pandemie nicht geringzuschätzen ist in Künstlerkreisen und sich somit besonders einprägt: die mit der Orchesterarbeit verbundene Festanstellung.