In der evangelikalen Mädchenschule gilt sie als „No-Hoper“, als Nicht-Hoffende: die alles und jeden und sich selbst am meisten kritisch betrachtende Emily Dickinson. Der britische Filmemacher Terence Davies lässt seine Hauptfigur aus dem einleitenden Gruppenbild herausfallen und nimmt damit ihre Außergewöhnlichkeit – aber auch ihre Isolation – vorweg. Während sich die anderen Mädchen zur Rechten und Linken der Lehrerin einreihen, bleibt sie allein im Bild stehen und liefert sich mit dieser einen verbalen Schlagabtausch. Keine Annahme über Gott, die Welt und die Frauen im Besonderen lässt sie unhinterfragt, kein Wort ihres Gegenübers schluckt sie einfach so herunter, alles wird eingehend betrachtet und geprüft. „A Quiet Passion“ ist ein ruhiger Film, aber im Inneren seiner Hauptfigur nagt und zerrt und zieht es.
Weite Gedankenräume und lebensweltliche Enge
Die Gedichte von Emily Dickinson (1803-1874) eröffnen weite Räume, dabei hat die bedeutende amerikanische Lyrikerin ihr gesamtes Leben ausschließlich in Amherst, Massachusetts, im Haus ihrer calvinistischen Familie verbracht. Terence Davies, dessen Filme gelegentlich Bild- und Tongedichte genannt werden, macht für beides Platz. Für die offenen gedanklichen Räume der Emily Dickinson und die in ihren Gedichten vollzogene Transzendenz des Zeitlichen wie auch für die Enge und Begrenztheit ihrer Lebenswelt. Routinen, Alltagsrituale, formelle Ordnungen und Wiederholungen werden in präzise, geradezu disziplinierte Bilder gefasst.
Einmal vollzieht die Kamera im nur bei Kerzenschein erleuchteten Salon der Dickinsons eine Drehbewegung um 360 Grad. Emily, Vater, Mutter, Tante, die Schwester Vinnie, der Bruder Austin, jede und jeder von ihnen in eine Tätigkeit vertieft: mit Lesen, Sticken, Schlafen, Vor-Sich-Hingucken. Als der Blick erneut auf Emily fällt, liegt Schmerz in ihrem Gesicht.
Ein dichterisches Genie im Verborgenen
„A Quiet Passion“ schildert ein Leben in gleichmäßigen Bahnen, die Schauplätze wechseln von den häuslichen Innenräumen in den Garten, Letzteres gegen Ende immer seltener. Dickinson empfängt nur wenige Besuche, meist sitzt sie in ihrem Zimmer und schreibt, bevorzugt in der Nacht, zwischen 3 und 6 Uhr. Einige wenige Gedichte werden zur Zeit ihres Lebens in Zeitungen publiziert (es sind gerade mal sieben von insgesamt 1775), begleitet ist die Veröffentlichung stets von der Verachtung gegenüber der „Spezies“ schreibender Frauen – Synonym für vereinsamte, unglückliche alte Jungfern. In einem Geistlichen aus Philadelphia sieht sie einen Seelenverwandten, er schätzt, was sie schreibt, der Kontakt bricht ab, als er fortzieht.
Mit zunehmendem Alter zieht sich Dickinson immer mehr in die Einsamkeit zurück, wird wunderlich und bitter. Einem Bewunderer ihrer Gedichte weigert sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, vom Treppenabsatz spricht sie zu ihm, spricht zu ihm herab, buchstäblich – „Why do you behave like this?“, fragt Vinnie. Es ist im Leben der Emily Dickinson eine wiederkehrende Frage, wobei sie mehr als nur manchmal im Recht ist – mit der Geschlechterungleichheit mag sie sich nicht abfinden. Die letzten Jahre sind von Leid geprägt. Die Eltern sterben, ein außereheliches Verhältnis ihres Bruders bringt sie in moralische Verzweiflung, sie selbst erkrankt an einem Nierenleiden, das von qualvollen Anfällen begleitet ist.
Sprache als Ereignis
Das Ereignis im ereignislosen Leben der Emily Dickinson ist die Sprache. Sie ist – neben dem phänomenalen Spiel von Cynthia Nixon – auch das Ereignis von Davies’ Film. Scharfzüngige Dialoge prägen den Film – erst heiter, ironisch, leicht wie in einer Jane-Austen-Verfilmung, später rigide, bissig, gallig – und natürlich Dickinsons Gedichte. Luftig liegen sie über den Bildern, eher ein Nachhall des gerade Erlebten als seine direkte Verarbeitung. Wie wenige Biopics macht „A Quiet Passion“ das Vergehen der Zeit erfahrbar und was es heißt, ein Drama im Stillen zu leben.