Das Massaker von Srebrenica ist das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Juli 1995 ermordeten bosnisch-serbische Milizen unter dem Kommando von General Ratko Mladić über 8000 muslimische Männer und Jungen. Und dass, obwohl die UN die bosnisch-muslimische Enklave zur Schutzzone erklärt und niederländische und kanadische Blauhelmsoldaten vor Ort stationiert hatte. Doch die sahen tatenlos zu.
Wie konnte das passieren, vor gerade einmal 25 Jahren? Unerfahrenheit, Hilflosigkeit, Gleichgültigkeit, Feigheit, mangelnde internationale Kooperation, eine brüchige Befehlskette – die Gründe und die Fehler der Beteiligten sind vielfältig. Wie nähert man sich einem solchen Gräuel filmisch? Wie findet man Bilder für das Unzeigbare? Die bosnische Regisseurin Jasmila Žbanić, die sich schon in „Esmas Geheimnis - Grbavica“ (2006) mit den Folgen des Jugoslawienkriegs beschäftigte, stellt nun eine Frau in den Mittelpunkt, die in einem von Männern dominierten Krieg gefangen ist.
„Ich bin nur die Übersetzerin“
„Quo vadis, Aida?“ erzählt die Geschichte einer Frau mittleren Alters. Früher war Aida Lehrerin. Jetzt arbeitet sie als Dolmetscherin für die niederländischen Blauhelme in Srebrenica. Immer mehr Muslime strömen hierher, um im abgesperrten Bereich einer alten Batteriefabrik Schutz vor den serbischen Milizen zu suchen. Plötzlich ist das Lager voll; die Menschen drängeln sich zu Tausenden in der heißen Sonne vor dem Stacheldrahtzaun, darunter auch Aidas Mann und ihre beiden Söhne.
Aida ist nicht mehr nur Übersetzerin, sondern auch Vertraute, Verhandlerin, Strategin. Sie übersetzt, was immer ihr gesagt wird. Das macht sie zur Zielscheibe des Ärgers und der Frustration der Menschen. Als eine alte Frau in einer riesigen Lagerhalle sie bittet, ihr Zugang zum Duschraum zu verschaffen, blafft sie genervt zurück: „Oma, ich bin nur die Übersetzerin.“ Doch das stimmt schon lange nicht mehr. Aida wird in die Schicksale der Menschen verwickelt. Plötzlich ist sie gezwungen, sich zu kümmern, ihren Einfluss geltend zu machen, zu taktieren und zu überzeugen, zu bitten und zu flehen. Sie muss Lüge und Wahrheit auseinanderhalten. Und einen Weg finden, sich selbst und ihre Familie zu retten. Doch dann ist Ratko Mladić da und seine Miliz. Selbstherrlich, mit der Waffe im Anschlag, dringt er in das Lager ein; die Blauhelme lassen es widerstandslos geschehen.
Der Film bleibt ganz nah bei Aida, der Zuschauer verfolgt das Geschehen mit ihren Augen. Man erlebt mit, wie sie hin und her läuft, zwischen Fabrikhalle und Lagerzaun, durch dunkle Gänge und schmale Gassen, die die wartenden Menschen gebildet haben. Man sieht ihre Frustration, ihre Verzweiflung, ihre Angst, aber auch das Wissen um das Schicksal der Menschen, die sich Hilfe von ihr erhoffen. Immer wieder gerät sie in eine moralische Zwickmühle, etwa, wenn sie unter den serbischen Soldaten einen ehemaligen Schüler erkennt, der mit ihr reden will. Doch dann erkundigt er sich nach ihrem Sohn. Eine Falle?
Die Angst in den Gesichtern der Blauhelme
Die Fronten scheinen zu verschwimmen. Dann nimmt das Grauen seinen Lauf. Mladić täuscht die Opfer über seine Absichten. Er geht von Bus zu Bus, die alle mit muslimischen Gefangenen vollbesetzt sind, stellt sich vor und behauptet, dass man die Männer und Jungen in das von muslimischen Truppen kontrollierte Gebiet bringen wolle. Im Gegensatz zu dieser Skrupellosigkeit steht die Angst, die sich in den Gesichtern der blutjungen Blauhelmsoldaten spiegelt. Einer muss es sich gefallen lassen, dass ihm ein Serbe den Helm vom Kopf reißt; der Angreifer kann sich sicher sein, dass er keine Konsequenzen zu fürchten hat.
Die Erschießungen, die an mehreren Orten in der Stadt stattfanden, spart die Regisseurin aus. Nur einmal ist zu sehen, wie serbische Soldaten Gewehre durch die Oberlichter einer Sporthalle schieben, dann zieht die Kamera sich rasch zurück, während auf der Tonspur die Salven zu hören sind. Die Folgen muss der Film nicht zeigen, weil man als Zuschauer um sie weiß. Trotzdem ist „Quo vadis, Aida?“ eine fast unerträgliche Seherfahrung. Man spürt die Bedrohung der Menschen, die Unausweichlichkeit ihres Todes. Und auch das hoffnungsvolle Bild am Schluss – Aida besucht nach Jahren erstmals wieder ihre Heimatstadt – hat etwas Trügerisches.