Was sagt es über den Werdegang eines Landes, wenn die vier wichtigsten Staatsmänner seiner Historie George Washington, Abraham Lincoln, Richard Nixon und Robert Redford heißen? Das zeigt an, dass hier einiges wohl anders gelaufen ist, als man es aus den Geschichtsbüchern kennt. In der Welt von „Watchmen“ haben die Vereinigen Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg überdies den Vietnamkrieg gewonnen – und zwar so, dass das asiatische Land nun als 51. Bundesstaat der USA firmiert. Das hat mit dazu geführt, dass auch der Kalte Krieg anders verlief und in den späten 1980er-Jahren fast in einer nuklearen Katastrophe gemündet wäre. Doch diese Gefahr wurde von Unheil aus einer anderen Dimension gebannt, weil es der Menschheit die Notwendigkeit von Einigkeit und Mäßigung vor Augen führte. Nun, in der Gegenwart des Jahres 2019, herrscht ein ganz eigentümlicher Frieden. Präsident Robert Redford führt ein Land, das bestrebt ist, ein gutes Amerika zu sein und die Sünden der Vergangenheit, etwa den Rassismus, zu überwinden.
Die Afroamerikanerin Angela Abar (Regina King), eine erfolgreiche Polizistin, lebt hier in Tulsa, Oklahoma, mit ihrem Mann Calvin (Yahya Abdul-Mateen II) und drei adoptierten Kindern ein scheinbar sicheres Leben. All dies ist nicht zuletzt den Watchmen zuzuschreiben, die vor mehr als drei Jahrzehnte auf ihre eigene, rabiate Art für Recht und Ordnung gesorgt haben. Längst hat sich Doctor Manhattan auf den Mars zurückgezogen. Chief Judd Crawford (Don Johnson) leitet im Geiste der „Wächter“ seine Polizei in Tulsa.
Ein latenter Krieg zwischen Polizei und radikalen White-Supremacy-Anhängern
Doch nichts da! Wieder sterben schwarze Menschen, nur weil sie eine dunkle Hauptfarbe haben. Gleich in der ersten Episode der Serienfortschreibung von Alan Moores und Dave Gibbons’ Comic wird klar, wie brüchig der Frieden und wie unüberwunden die Geschichte aus Hass und Gewalt ist. Die Polizei in Tulsa trägt gelbe Masken, damit die Cops nicht identifizierbar sind für die rechtsradikalen Terroristen, die vor Jahren ein Massaker unter ihnen verübten: Die „7. Kavallerie“ ist wieder da. Sie hat die Gesellschaft nie verlassen. Und Angela Abar streift ohne Wissen ihrer Kinder als „Sister Night“ zusammen mit der Polizei wieder durch die Nacht, auf die Suche nach den Gewalttätern mit den weißen Rorschach-Masken, die die Ku-Klux-Klan-Kapuzen abgelöst haben.
Die White-Supremacy-Bewegung hat das Land bis ganz nach ganz oben infiltriert, um mit weißer Überlegenheit endgültige Fakten zu schaffen. Selbst die unbesiegbare kinetische Superkraft eines Doctor Manhattan oder die unbezwingbare Intelligenz eines Adrian Veidt alias Ozymandias wird das nicht verhindern. Denn die „7. Kavallerie“ hat vorgesorgt – und Bünde geschmiedet. Wo sind die Superhelden von einst, wenn man sie braucht? Oder schaffen es ihre Nachfolger, Sister Night und ihre ebenfalls mit der Polizei kollaborierenden Kollegen Looking Glass (Tim Blake Nelson) oder Red Scare (Andrew Howard), der erstarkenden Rechten die Stirn zu bieten?
Von Wiederaufnahmen, Neuinszenierungen und dem Wiederbeleben des Altbekannten lebt die Bühne. Das war im Theater schon immer so, und ist im Kino und Heimkino inzwischen ebenfalls gängige Praxis. Shakespeare allenthalben. Und im Film: Superhelden. Doch selten sind solche Neuinterpretationen so kühn, so klug und so zeitgemäß, wie es die „Watchmen“-Serie nach dem DC-Comic aus den 1980er-Jahren ist. „Watchmen“ nötigt einem viel Respekt vor der bestechenden Form und Begeisterung ab angesichts der Radikalität, mit der hier ein Superhelden-Universum – physisch wie philosophisch – dekonstruiert wird.
Die Comicverfilmung „Watchmen – Die Wächter“ (2009) von Zack Snyder bestimmt die Tonart, mit der nun auch die „Watchmen“-Serie unter der Regie von Nicole Kassell und fünf weiteren Regisseuren in Szene gesetzt ist. Sie spinnt die Götterdämmerung der Kinoversion fort und erzählt doch eine gänzlich andere Geschichte, die Jahrzehnte nach den Comics und deren freier Verfilmung durch Snyder angesiedelt ist. Verweise und Verwurzelungen muss man allerdings (er)kennen, da sich sonst leicht Irritationen einstellen, wenn es beispielsweise in der ersten der neun einstündigen Episoden plötzlich Baby-Calamari vom Himmel regnet. Auch wer dieser ältere, distinguierte Herr (Jeremy Irons) ist, der auf einem noblen Landsitz im Grünen mit einem seltsamen Dienerpärchen residiert, wird erst langsam klar.
Das Mosaik eines zerrissenen Landes
Die „Watchmen“-Serie mutet den Zuschauern Rätselhaftes zu und auch beiläufige Ungeheuerlichkeiten; so wird die Handlung um Angela Abar und den Kampf gegen die „7. Kavallerie“ immer wieder von historischen Rückblenden unterbrochen: etwa ins Jahr 1921 zum rassistischen Massaker von Tulsa, oder in die 1940er- und 1980er-Jahre; aus all diesen scheinbar losen Erzählbausteinen entwirft die Serie nach und nach nicht nur eine eigene „Watchmen“-Mythologie, sondern auch ein Mosaik der USA, das bei aller „Alternative History“-Andersartigkeit erschütternd aktuell und treffend ist: das Bild eines zerrissenen Landes, dessen Geschichte trotz aller Versuche, sie zu überwinden, in der Gegenwart fortwirkt und in dem ein latenter Kampf um Identität und das nationale Selbstverständnis tobt.
Cast und Crew sind mit diesem beißenden Kommentar auf die aktuelle Welt (und die der Superhelden) bereits mit Lorbeeren überschüttet worden (etwa mit rekordverdächtigen 26 Emmy-Nominierungen). Herauszuheben sind dabei nicht nur die mehr oder minder maskierten Darsteller, sondern vor allem auch die musikalische Gestaltung mit dem treibenden Dancefloor-Score Trent Reznors und Atticus Ross’ sowie der gut getimten Tour de force durch die Musical- und Opernwelt, die der Serie eine Erdung im Hier und Jetzt ausgerechnet durch die musikalische Hochkultur verschafft. Wenn am Ende nicht nur die Frage nach Sieg und Niederlage aufkommt, sondern die Rolle der Liebe im Gottsein eine völlig andere Dimension erhält, dann ist aus dem Altbekannten im wahrsten filmischen Sinne neues Leben und in künstlerischer Hinsicht ein neues Werk entstanden.
Ganz so wie in Baz Luhrmanns Version von „Romeo & Julia“ oder Burhan Qurbanis Interpretation von „Berlin Alexanderplatz“ verhält es sich auch mit Damon Lindelofs „Watchmen“-Fortschreibung: Es gibt kaum etwas Schöneres, als Künstlern dabei zuzusehen, wie sie aus etwas Bekanntem radikal Neues zaubern. Rauschhaft, ohne Zwänge, und mit dem Schulterschluss von Pop und Oper. Ach, wäre es doch immer so!
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