Ein vorangestelltes Zitat des US-amerikanischen Dichters Paul Monette gibt den Ton vor: „Go without hope, but never without rage. Heal the world.“ Hoffnung, Wut und Heilung: Das sind die emotionalen Zustände und Prozesse, die der Film von Rodrigo Bellott fast wie ein Stationendrama durchläuft. Am Anfang steht jedoch ein ganz anderes Gefühl: das überwältigender Trauer.
Jorge, ein streng religiöser Mann im bolivianischen Santa Cruz de la Sierra, hat gerade seinen Sohn verloren. Kurz bevor Gabriel von New York zu seiner Familie zurückkehren wollte, hat er sich umgebracht. Als der Vater beim Durchsehen seiner persönlichen Gegenstände von der Homosexualität des jungen Mannes erfährt, ruft er dessen Ex-Freund in New York an, beschimpft ihn und droht ihm sogar mit dem Tod. Die beiden Trauernden stehen sich unversöhnlich gegenüber; sie geben dem jeweils anderen die Schuld für das Unglück. Doch kurz darauf steht Jorge mit all seinen homophoben Ressentiments vor Sebastians Tür. Er möchte verstehen.
Die Diskriminierung zum Thema machen
„I Miss You“ basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Bellott, 2015 erlebte es seine Uraufführung in Bolivien und entfaltete nicht nur in der schwulen Community eine große Wirkung. Die Diskriminierung in dem konservativen Land war plötzlich ein öffentliches Thema; die LGBTQ-Gemeinde wurde schließlich ins Anti-Diskriminierungsgesetz aufgenommen. Aber es gab ebenso heftige Anfeindungen – auch gegen den Film. Zumal er auch noch für den „Oscar“ eingereicht wurde.
Bellott verknüpft in dem Melodram verschiedene Erzählebenen. Die eine zeigt Jorge, der von Oscar Martínez sehr fein und anrührend gespielt wird, auf der Suche nach Antworten. Er lernt Gabriels Freunde kennen und dadurch indirekt auch seinen Sohn: einen jungen Mann, der innerlich zerrissen wurde von den Ansprüchen seiner religiösen Familie und seinem sexuellen Begehren. In Sebastians Erzählungen entfalten sich wiederum Rückblenden.
Die beiden Männer lernen sich kennen, und auch wenn Gabriel anfangs vorgibt, „straight“ zu sein, sind sie schon bald ein Paar. Kurz sieht es so aus, als könnten die beiden eine Beziehung leben, doch Gabriel macht die offen schwule Lebensweise des Geliebten Angst. Er wendet sich ab, um ein „diskretes“ sexuelles Leben auf Tinder fortzusetzen.
Keine Angst vor Pathos
Weitere Ebenen zeigen die Proben zu dem Theaterstück, das Sebastian auf der Grundlage seiner Erlebnisse inszeniert, sowie ein Interview, in dem er dazu befragt wird. Die Übergänge zwischen den Teilen fügen sich nicht immer flüssig ineinander, auch wenn der Film die Grenzen verwischen will. Gerade hat sich Sebastian mit Jorge an einen Restauranttisch gesetzt, als auch schon Gabriel daran Platz nimmt. Dieser wird zudem von mehreren Darstellern verkörpert – im Theaterstück sind es sogar 29 verschiedene Gabriels.
Die Probenszenen sind nicht leicht zu verdauen – zumal, wenn man eher repräsentationskritisches Theater gewohnt ist. Mit Pathos und großen symbolischen Gesten wird hier nicht gespart. „I Miss You“ ist aber ohnehin ein Film ohne Maß. Die schwule Szene wird in expressiven Farben gezeichnet, die Dialoge sind mit aufklärerischer Rhetorik durchsetzt, auch die Erzählung ist überladen. Beim Casting für das Stück wird vor der Kamera geweint; ein Schauspieler wird Opfer eines homophoben Übergriffs; Jorge hat nicht nur Begegnungen mit dem queerem Clubleben, sondern auch mit einem Pfarrer, der die Briefe des Paulus gegen den Strich liest.
Eine selbstverschuldete Unsichtbarkeit
Kurz gesagt: Alles ein bisschen viel. Und doch sollte man „I Miss You“ mit anderen Maßstäben messen. Einmal redet sich Sebastian in Rage über das Versteckspiel seiner Community: „Sie haben so große Angst vor der Liebe, dass alles auf Sex reduziert wird.“ Den Vorwurf selbstverschuldeter Unsichtbarkeit artikulierte – freilich mit anderen Mitteln – auch schon Rosa von Praunheim in „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“(1971) – ein Film, der eine große gesellschaftliche Veränderung in Gang setzte. Vielleicht könnte „I Miss You“ in Bolivien Ähnliches bewirken.