Wie aufregend die Form des Animationsfilms sein kann, um neue Sichtweisen zu eröffnen, hat der israelische Filmemacher Ari Folman mit seinem autobiografisch geprägten „Waltz with Bashir“ (2008) unter Beweis gestellt, ein im Rotoskopie-Verfahren gedrehter Film über Erinnerung, Gewalt und Politik. All diese Elemente finden sich nun auch in „Wo ist Anne Frank?“ wieder, einer animierten Fabel rund um das Tagebuch der deutschen Jugendlichen, die 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben kam.
Während vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam ein Sturm tobt und Wind und Regen durch die Straßen peitschen, zerbirst im Inneren eine Vitrine, in der eines der Tagebücher von Anne Frank liegt. Der Füllfederhalter fällt auf die Spitze, Tinte läuft aus – und aus den Strichen, die die Tinte hinterlässt, beginnt sich ein Körper zu formen: ein junges Mädchen, staksig, mit leuchtend roten Haaren, Sommersprossen und großen Augen im Anime-Stil. Doch es ist nicht Anne Frank, sondern Kitty, das erfundene Mädchen, an das Anne Frank aus ihrem Versteck im Hinterhaus ihre Tagebucheinträge gerichtet hat und dem sie ihre Gedanken anvertraut hat wie keinem realen Menschen zuvor.
Historische Fakten für die Gegenwart öffnen
Im Museum bleibt Kitty unsichtbar und kann die Besucherströme beobachten, die jeden Tag das Hinterhaus erkunden, in dem sich die Familie Frank mit weiteren jüdischen Bekannten mehr als zwei Jahre lange vor den Nationalsozialisten versteckte. Außerhalb des Museums jedoch wird sie zu einer realen Person, die mit anderen Menschen interagieren kann. Kitty weiß nichts über die Geschichte von Anne Frank. Es ist der Gelegenheitsdieb Peter, der ihr erzählt, was mit Anne und ihrer Familie geschah. Als Kitty das Tagebuch an sich reißt und das Museum verlässt, wird sie zur Gesuchten.
In manchen Szenen gelingt es dem Animationsfilm, historische Fakten zu öffnen und einen Raum für fantasievolle Ausschmückungen und Assoziationsräume zu schaffen. Nicht immer geht Folman dabei subtil vor. So werden die deutschen Soldaten als übergroße Wesen mit an Gespenster erinnernden Gesichtern dargestellt; in einer anderen Szene lässt er die filmbegeisterte Anne auf einem roten Ross hinter Clark Gable in die Schlacht gegen die Nationalsozialisten reiten. Ein Zug fährt schließlich langsam zwischen Felsen in die Ferne und wird dabei in bedrohliches rotes Licht der Abendsonne getaucht.
Oft beobachtet der Film Kitty aber auch dabei, wie sie auf Schlittschuhen über die zugefrorenen Amsterdamer Grachten gleitet – und damit den unerfüllten Traum von Anne Frank lebt, sich frei und unauffällig bewegen zu können.
Es sind durchaus neue Bilder für die bekannte Anne-Frank-Geschichte, die „Wo ist Anne Frank?“ zu bieten hat. Doch die Gestaltung der Figuren enttäuscht. Die Gesichter bleiben austauschbar, und auch die großen Augen drücken weniger Gefühle aus, als dass sie die Aufmerksamkeit auf unangenehme Art auf sich ziehen.
Fakten und Fiktion gegen ineinander über
Fließend gehen derweil Fakten und Fiktion ineinander über, Träume von einer anderen Vergangenheit und Träume von einer anderen Zukunft. In Dialogen zwischen Kitty und Peter oder Kitty und Anne wird Hintergrundwissen mit Blick auf ein jüngeres Publikum en passant vermittelt. Doch dabei stellt sich unweigerlich die Frage, was der Film damit bezweckt. Manches Gespräch wirkt redundant. Ist es wirklich nötig, dass Kitty und Anne erörtern, wie Anne sich fühlt und was Kitty für sie bedeutet? Ist es nicht genau das, was Anne Frank in ihren eigenen Worten in ihrem Tagebuch so anschaulich selbst beschrieben hat und was keiner weiteren Erklärung bedarf?
Ari Folman versucht, Anne Frank aus dem Museum zu befreien. Er wirft einen kritischen Blick auf eine Erinnerungskultur, die Menschen zu Namensgebern für Brücken, Schulen, Theater und Krankenhäuser macht, dabei aber den Blick für das Wesentliche aus den Augen verliert. Das ist gut gemeint, kommt aber an seine Grenzen, sobald die Abschiebung illegaler Geflüchteter in der Gegenwart mit den NS-Deportationen in die Konzentrationslager verglichen wird.
„Ich bin hier“ steht auf dem Ballon
Viel besser ist das Bild, das einen Heißluftballon zeigt, den Geflüchtete genäht haben und der in den Farben von Anne Franks Tagebuch angemalt wurde. „Ich bin hier“, steht auf dem Ballon. Ganz einfach um das Da-Sein geht es in diesem Moment, weil der Blick auf Menschen gelenkt wird, die aus der Öffentlichkeit verdrängt wurden und nicht frei leben können.