Gibt es so etwas wie eine sequenzierbare DNA eines Künstlers, die sich eindeutig bestimmen ließe, oder ist jedes neue Kunstwerk notwendigerweise wie eine Sprungmutation, die zwar kreativen Fortschritt verbürgt, dem Œuvre als Ganzem aber stets enteilt? Bei einem Filmemacher, der stark und affirmativ dem Autorkonzept zuneigt, wird man leichter Ersteres bejahen mögen, und das Werk des US-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Wes Anderson, Jahrgang 1969, ist mittlerweile umfangreich genug, um Stoffe und Motive, Erzählweise und Bildästhetik in ihrer Verwandtschaft und Entwicklung zu studieren. So ist auch sein neuer Film „The French Dispatch“, der bei den diesjährigen Festspielen von Cannes Weltpremiere hatte, erkennbar aus einer Hand (wenn auch vielleicht nicht völlig aus einem Guss), obwohl er so magazinhaft-episodischen Charakter trägt. Das kommt nicht von ungefähr: Andersons gesamte Konzeption gestaltet sich als ungeheuer nostalgische und also recht verklärende Hommage an eine spezifische Form der Welterkenntnis und Weltaneignung, liberalen Geistes, grundsätzlich human und schon daher auch dem Körperlichen besonders zugetan.
Es ist die Haltung des Flaneurs (hier verkörpert durch Andersons Alter Ego Owen Wilson als radelnder Reporter Herbsaint Sazerac), der seine durch glückliche Fügung („Serendipity“) aufgespürten objets trouvés mit feuilletonistischem Blick erfasst und freigiebig mitteilen möchte. Dies geschah zu Zeiten, als der Qualitätsjournalismus noch über größere Ressourcen an Köpfen, Geld und Zeit verfügte, auf den langen Panoramastrecken in Magazinen wie „The New Yorker“ (nach dessen Ausgaben Anderson süchtig sein soll), die einem begierigen Nachkriegspublikum alle Länder und Spielarten des Menschlichen auffächerten als ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten.
Ein grenzenloses Utopia der Fantasie und der Fabeln
„The French Dispatch“, das bunte alteuropäische Beiboot eines US-Blattes des legendären Verlegers Arthur Howitzer jr. (Bill Murray), nimmt unverhohlen Anleihen bei solchen Vorbildern und schreibt sich so auch fiktiv ein in die Geschichte der franko-amerikanischen Kulturbeziehungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts (Hemingway et al. in Paris). Das charmant, aber auch mit einem gerüttelt Maß an nationalen Klischees entworfene Städtchen, in dem die Zeitungsredaktion lebt und arbeitet, denkt und dichtet, nennt sich Ennui-sur-Blasé (!) und ist ein grenzenloses Utopia der Fantasie und der Fabeln, ein journalistisches Schlaraffenland sozusagen. In einer furiosen Fahrt mit Sazerac am Lenker lernen wir seine Quartiere und Originale kennen und erkennen mit melancholischem Blick seine moderne Veränderung und Gentrifizierung: „Paris change“ à la Baudelaire, aber auch Orte haben eine DNA, und sie bleibt weiterhin wirkmächtig. Doch nun, wir sind im Jahre 1975, stirbt Howitzer, und seine edelsten Federn ehren ihn und sein Lebenswerk durch drei märchenhafte Geschichten, die noch ein letztes Mal den Geist von „The French Dispatch“ atmen. Es ist unbedingt ein Blick zurück, ohne Zorn, vielmehr mit der Wehmut des Abschieds, den Wahlfranzose Wes Anderson hier aussendet. In den Worten der großartigen Tilda Swinton ist der Film „Wes’ französischer Liebesbrief an die Internationale der Kultur und an die segensreiche Kunst des unabhängigen Journalismus“.
Ein besonders gelungenes Beispiel dafür gibt gleich Episode 1: Die Muse als gestrenge Herrin des Künstlers spielt Wärterin Simone (Léa Seydoux) für den gottbegnadeten, doch geistesgestörten Maler Moses Rosenthaler (Benicio del Toro), der wegen Doppelmordes seit Jahr und Tag im Gefängnis/Irrenhaus einsitzt und bei seinen täglichen einstündigen Freizeiten ungemein kreative Eruptionen seines Pinsels auf die Leinwand wirft, bis ihn Simone unwirsch abstreift, wenn er zudringlich werden möchte. Sein Knastbruder, ein aalglatter Kunsthändler (Adrien Brody), wittert Talent – und seine Chance, dem überdrehten Kunstmarkt ein neues Enfant terrible verkaufen zu können, unterstützt von der lasziv-gescheiten Society-Lady J.K.L. Berensen (Tilda Swinton). Tumult und Tohuwabohu, als eine dekadente Gesellschaft zu Champagner und Canapés in die Anstalt eindringt, um Rosenthaler zu huldigen. Wie dieser am Ende doch alle austrickst, um sein Meisterwerk „Simone, nackt, Zellenblock J, Hobbyraum“ ultimativ für sich zu behalten, das verrät der deutsche Titel dieser Episode zu deutlich, als dass er hier genannt sein sollte…
Ein Speisezimmer und ein Manifest
Eine weitere führt nach dieser spätromantischen Künstler-Tragikomödie, nicht in historischer Chronologie, in die Ära der (französischen) Policier-Filme. „Das private Speisezimmer des Polizeichefs“ zeigt höchste Kochkunst und niederste Kriminalität innig verbunden und verwickelt den Kommissar (Mathieu Amalric) und „le chauffeur“ (Edward Norton) in einen handfesten Krimi um Entführung und Erpressung. – „Ein Manifest und seine Überarbeitungen“ schließlich lässt mit Timothée Chalamet als Student und Revolutionär Zeffirelli zwischen allen Fronten und Frauen (unter diesen: Lyna Khoudri und Frances McDormand) die Zeit der 1968er nur allzu lebendig werden mit ihrem so zerstörerischen wie produktiven Widerstreit von Jung und Alt, Geist und Tat, solidaire et solitaire.
„The French Dispatch“ hält auf der ästhetisch-visuellen Ebene viele, fast zu viele poetische Angebote an die Zuschauer:innen bereit. Vieles geschieht gleichzeitig, und manches wird man ein zweites Mal sehen wollen. Der Film offenbart dabei durch Setdesign, Bildcadragen, Kameraführung und chromatische Texturen (von häufigem schwarz-weiß bis hin zu bonbonbunt) klar die Anderson’sche DNA – und die seines Teams um Kameramann Robert Yeoman und Produktionsdesigner Adam Stockhausen. Wer neben dem „New Yorker“ auch „Tim und Struppi“ gerne gelesen hat, wird hier vollständig glücklich. Verlangt es einen hingegen nach der großen Erzählung, die Erklärung bietet und Zusammenhang stiftet, so könnte Enttäuschung sich einstellen. Aber ein Autor, auch ein filmischer, muss ja nicht immer ein homerisches Epos vorlegen; manchmal ist es ein schmaler Band mit Kurzgeschichten, der dennoch bestens amüsiert.