Winterreise (2019)
Dokumentarfilm | Dänemark/Deutschland 2019 | 91 Minuten
Regie: Anders Østergaard
Filmdaten
- Originaltitel
- WINTER JOURNEY
- Produktionsland
- Dänemark/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- Plus Pictures/Zero One Film
- Regie
- Anders Østergaard · Erzsébet Rácz
- Buch
- Martin Goldsmith · Anders Østergaard
- Kamera
- Henner Besuch · Mitja Falk · Agnesh Pakozdi · Lars Skree
- Schnitt
- Anders Villadsen
- Darsteller
- Bruno Ganz (George Goldsmith)
- Länge
- 91 Minuten
- Kinostart
- 22.10.2020
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
Heimkino
Ein Dokumentarfilm mit nachgestellten Interviews über die Annäherung eines Moderators an seine Eltern, die als jüdische Musiker in den 1930er-Jahren vor ihrer Flucht vor dem Nazi-Terror in Deutschland arbeiteten.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“ Mitten in der Wüste von Arizona, zwischen kargen Bergen und dürren Kakteen, fängt der Vater im Beisein des filmenden Sohnes an, Schuberts „Winterreise“ zu singen. Der Liederzyklus gibt dem Film nicht nur seinen Titel, sondern auch das Thema der Vertreibung vor – „Was soll ich länger weilen, dass man mich trieb hinaus?“ Nur dass George Goldsmith kein Wanderer der Romantik ist, sondern Günther Goldschmidt, ein deutscher Jude, der vor dem Vernichtungsterror der Nazis in die USA floh. Bruno Ganz leiht der historischen Figur in seiner letzten Rolle sein Gesicht.
Martin Goldsmith, der (real) aus dem Off sprechende Sohn, erinnert sich an eine Kindheit, deren Normalität etwas verdeckte. Ein prägendes Erlebnis. Als er zehn Jahre alt war, reiste die Familie in die Geburtsstadt des Vaters nach Oldenburg. Doch kurz bevor sie das ehemalige Elternhaus erreichten, machte der Vater abrupt kehrt. Über die Großeltern, die Tanten und Onkel heißt es nur: „Sie sind im Krieg gestorben.“ Erst als erwachsener Mann, die Mutter ist inzwischen tot, fängt der Sohn an, Fragen zu stellen. Mit seiner insistierenden, manchmal auch etwas ungeduldigen Art bringt er den Vater zum Sprechen.
Die Geschichte des Vaters rekonstruiert
„Winterreise“ basiert auf dem 2002 veröffentlichten Buch „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte“. Darin rekonstruiert Martin Goldsmith in Gesprächen mit dem Vater die Geschichte seiner Familie in den 1930er-Jahren. Günther Goldschmidt ist Musiker, er studiert Flöte in Karlsruhe, 1935 muss er die Hochschule ohne Diplom verlassen. Die Ausreise nach Schweden ist vorbereitet, als er einen Anruf des Jüdischen Kulturbunds erhält. Die 1933 als Reaktion auf die Entlassungen jüdischer Kunstschaffender aus den staatlichen Kulturbetrieben gegründete Organisation soll den nunmehr arbeitslosen Menschen Erwerbsmöglichkeiten verschaffen. Für die Nazis ist sie ein Propagandainstrument. Goldschmidt findet eine Beschäftigung im Orchester, wo er seine Frau kennenlernt und in Deutschland bleibt.
Die Musik ist den Goldschmidts lange eine Zuflucht; Warnungen werden überhört. Erst als die Gestapo ein altes Ehepaar aus dem Konzertsaal prügelt, fällt die Entscheidung zur Flucht. Durch ein Kammerkonzert in der US-Botschaft in Berlin kommen sie an ein Visum. 1941, drei Monate vor der Auflösung des Kulturbunds, gelingt die Ausreise. Ihre Eltern, der Onkel und die Tanten werden in den Konzentrationslagern ermordet.
Üppiger Filmessay mit nachgestellten Interviews
Regisseur Anders Østergaard hat in Zusammenarbeit mit Goldsmith, einem in den USA bekannten Radiomoderator, die Geschichte zu einem üppigen Filmessay verarbeitet. Sein Material sind Archivaufnahmen und historische Fotografien sowie inszenierte Home Movies und die mit Bruno Ganz nachgestellten Interviews. Den Begriff des Re-Enactments nimmt Østergaard mitunter allzu wörtlich, wenn er historische Filmaufnahmen nachträglich mit Sounds und Dialogfetzen unterlegt oder den jungen Günther Goldschmidt mit Hilfe von Green Screens in der Kulisse von Archivfotos bewegt.
„Winterreise“ folgt einem eher fragwürdigen, authentizitätsgläubigen Begriff von Geschichtsschreibung – als bedürfe die Geschichte von Günther Goldschmidt eines möglichst naturalistischen „Erlebens“, um Interesse zu wecken. Zum Verdienst des immer wieder ins Pathos ausgreifenden Films gehört dagegen die ausführliche Aufarbeitung der ambivalenten Rolle des Kulturbunds Deutscher Juden. Für viele Musikerinnern und Musiker erwies sich diese scheinbare Insel kultureller Selbstbehauptung als eine tödliche Falle. Goldsmiths Vater hat in den Vereinigten Staaten, wo er nie wirklich heimisch wurde, nie wieder als Musiker gearbeitet.