„Der geheime Garten“, 1911 von Frances Hodgson Burnett geschrieben, ist ein Klassiker der Kinderliteratur, beliebt bei jüngeren, aber auch älteren Menschen. Das liegt vor allem an der Charakterisierung der Hauptfigur: Mary, ein ungeliebtes Mädchen auf der Suche nach einem Platz im Leben. Darin dürften sich viele Kinder auf der ganzen Welt wiedererkennen. Zeit- und generationenübergreifend lädt Mary damit zur Identifikation ein.
„Mary gewinnt Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein durch eine gleichberechtigte Freundschaft und das Bestellen eines Gartens, dessen Frühlingserblühen ihre Selbstwerdung widerspiegelt. Erwachsene können sich zugleich am unbeschwerten Leben der Kinder in einem paradiesischen Garten erfreuen, dem Urbild für Heimat“, versucht das Kindler-Literaturlexikon etwas umständlich die Essenz des Romans zu beschreiben.
Werkgetreu & mit großem Verständnis
Auch die Filmindustrie nahm sich des Buches immer mal wieder an, zuerst 1949 unter der Regie von Fred M. Wilcox, zuletzt 1992 unter der Regie von Agnieszka Holland. Fast drei Jahrzehnte später hat der britische Regisseur Marc Munden die Vorlage erneut adaptiert – werkgetreu und mit großem Verständnis für die Faszination, die das Buch seit über 100 Jahren ausübt.
Als man die zehnjährige Britin Mary Lennox kennen lernt, lebt sie noch in Indien im Jahr 1947, was die Geschichte, anders als die zur Regierungszeit König Edward VII. angesiedelte Vorlage, zeitlich zumindest etwas näherbringt. Der englische Kolonialismus geht zu Ende, die Teilung des riesigen Reiches in Indien und Pakistan steht kurz bevor. Ein brisanter politischer Hintergrund, der auf das Leid und den Tod von Millionen von Menschen verweist.
Das Rotkehlchen und der Schlüssel
Weil sich die Eltern kaum um das Mädchen kümmern, wird es von den Dienstboten verwöhnt. Unvermeidliche Folge: Mary ist eine eingebildete, naseweise Göre, die sich nicht einmal allein anziehen kann. Doch plötzlich sind die Eltern tot, gestorben an der Cholera, und Mary wird zurück nach England geschickt, nach Misselthwaite Manor, dem Landgut ihres Onkels Archibald Craven (Colin Firth), das in den Yorkshire Moors gelegen ist. Der Kontrast zum quirlig-lebendigen, farbenfrohen Indien könnte nicht größer sein. Das hochherrschaftliche Haus mit seinen Flügeln, Balkonen, Erkern und Türmen ist viel zu groß und weitläufig für die wenigen Menschen, die hier leben. Imposant, grau und abweisend steht es da.
Weder der Onkel noch die Haushälterin (Julie Walters) interessieren sich für das Mädchen. Doch die Geheimnisse von Misselthwaite Manor, in dem viele Zimmern verschlossen sind, wecken Marys Neugier. Sie schließt Freundschaft mit ihrem kränklichen Cousin Colin, der den ganzen Tag im Bett liegt und auf den Rollstuhl angewiesen ist, und mit Dickon, einem gleichaltrigen Jungen aus der Nachbarschaft. Und dann entdeckt sie den geheimen Garten des Filmtitels. Seit zehn Jahren ist er verschlossen, niemand durfte ihn seitdem betreten. Ein Rotkehlchen legt den vergrabenen Schlüssel frei, Mary schlüpft durchs eiserne Tor und entdeckt eine farbenprächtige Welt, die eine magische, heilende Wirkung auf die jungen Besucher ausübt.
In allen Farben des Regenbogens
Dieser Garten ist die größte Attraktion des Films. Er leuchtet in allen Farben des Regenbogens, mit zahlreichen Pflanzen und Bäumen, Sträuchern und Blumen, die sich zu bewegen scheinen und um die Besucher schlängeln, die sich zur Seite bewegen, um Platz zu machen, oder zusammenschließen, um den Zugang zu verwehren. Das spektakulärste Bild ist das eines gelben Blumenmeeres, das von der Decke zu hängen scheint und sich wie ein Kornfeld im Wind wiegt. Wie Scheinwerfer erleuchten sie ihre Umgebung. Ein Garten, der so ganz anders aussieht als übliche Gärten, ohne Zaun, ohne Mauern – fast wie ein freies, offenes Feld, das sich stetig verändert.
Die Grenzenlosigkeit dieser Welt macht die Entfaltung der jugendlichen Figuren erst möglich, sie knüpfen komplexe Beziehungen zueinander und helfen sich gegenseitig. Der Filmemacher Marc Munden kommt dem, was Frances Hodgson Burnett sagen wollte, sehr nahe. Er nimmt die Ängste der Heranwachsenden ernst und zeigt ihnen gleichzeitig einen Ausweg. Am Schluss sind die drei Kinder nicht mehr dieselben.