Helga Pato (Pilar Castro) sitzt im Großraumabteil eines Schnellzugs und schaut auf die vorbeirauschende Landschaft. Sie hat gerade ihren Mann (Quim Gutierréz) in der Psychiatrie abgeliefert. Da nimmt ein elegant gekleideter Herr (Ernesto Alterio) auf dem freien Sitz gegenüber Platz und stellt sich als Àngel Sanagustin vor. Er sei Psychiater und arbeite in der Klinik, in der Helga ihren Mann zurückgelassen hat. Doch die Geschichte, die er ihr erzählen wolle, sei eine ganz andere. Sie führt in die Abgründe der menschlichen Seele eines Mannes, der nicht einmal sein Patient war. Dieser Martín Urales de Úbeda (Luis Tosar) zog als spanischer Soldat in den Kosovo und ist dort verschwunden, nachdem er mit dunklen Geheimnissen konfrontiert wurde. Etwa dem einer befreundeten Kinderärztin, die sich prostituierte, um Geld für ihr Kinderkrankenhaus zu erhalten, dann aber beseitigt wurde, weil sie einem brutalen Porno-Ring zu nahe kam. Úbeda stieß bei seinen Nachforschungen auf eine große Verschwörung, die über die Müllabfuhr organisiert war. Mit der hat auch Úbeda mehr zu tun, als er zugeben will.
Der Müll, die Macht und der Tod: Úbedas Geschichte ist eben so schrecklich wie zweifelhaft. Sanagustin will sie über einen Brief von Úbedas Schwester erfahren haben. Als er sie besucht, gerät er in eine tödliche Falle.
Ein Labyrinth aus Geschichten
Die Paranoiker und ihre gefährlichen Geschichten, sagt Sanagustin, und hat damit recht, wenn auch auf eine Weise, die sich erst nach und nach erschließt. Denn immer, wenn man in diesem Film glaubt, alles zu wissen, öffnet sich eine neue Tür, hinter der sich eine komplett andere Perspektive der Geschichte verbirgt. „Das klingt schon ein wenig seltsam, zugegeben. Aber das ist noch gar nichts“, sagt Sanagustin, und seine Erzählung löst in seiner Zuhörerin tatsächlich Erinnerungen an ihre eigene Geschichte aus: ihre Liebe zu einem wortkargen Hundefreund, einem Kioskbesitzer, an den sie sich schnell gebunden hat. Doch der ließ sie durch schleichende Erniedrigungen immer mehr zum Hund werden, bis sie sich kaum noch aus dieser Sklaverei befreien konnte.
Auch das kleine Eigenheim im bürgerlichen Wohnviertel mit dem gigantischen Müllberg verbirgt noch ganz andere Geheimnisse, als sie in den Erzählungen des vermeintlichen Psychiaters vorkommen. Und dann gibt es noch einen anderen Mann, der auch eine Geschichte erzählen will.
Dreiste Lügen eines sympathischen Erzählers
„Ventajas de viajar en tren“, in Deutschland als „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ betitelt, ist ein Film über das Erzählen, über das kreative Fabulieren, das Spinnen von Erzählfäden und das Weben ganzer Geschichten. Das Debüt des baskischen Regisseurs Aritz Moreno zeichnet sich durch eine labyrinthische Erzählstruktur aus: die Geschichten fließen ineinander, Wahrheiten entpuppen sich als dreiste Lügen, der glaubwürdige, sympathische Erzähler wird bald fragwürdig.
Das Drehbuch von Javier Gullón basiert auf dem gleichnamigen Roman von Antonio Orejudo und ist wie eine Zwiebel gebaut, bei der sich hinter jeder Schale eine andersfarbige Haut offenbart. Das erinnert an die opulenten Erzählungen des 19. Jahrhunderts, an Romane wie „Die Handschrift von Saragossa“, die auch schon die Filme von Luis Buñuel geprägt haben. Die geradezu unheimliche Höflichkeit der Protagonisten und die Beiläufigkeit des Grotesken und Grauenvollen erinnert ebenfalls an Bunuel, wie auch das Zugabteil als Angelpunkt der Erzählung.
Morena knüpft aber auch an die Tradition der volkstümlichen spanischen Komödie an, deren schwarzen Humor und ihre grotesken Übertreibungen er mit Elementen des Thrillers und des Horrorfilms verbindet. Die bewegte Kamera des baskischen Bildgestalters Javier Agirre schafft albtraumartige Perspektiven; die Liebe zum Detail lässt eindringliche Atmosphären entstehen.
Guter Kumpel, doppelter Boden
„Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ lebt aber auch von einem dynamischen Schauspielerensemble, mit Luis Tosar als galizischer Bösewicht, ein guter Kumpel mit doppeltem Boden, Ernesto Alterio, dem Sohn des argentinischen Charakterdarstellers Hector Alterio, der bodenständigen, sinnlichen Pilar Castro und Quim Gutierrez als ebenso manischer wie beschränkter Hundefreund.
Im Kontext eines von Genrekonventionen geprägten spanischen Kinos ist „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ ein herausragendes Werk, weit entfernt von jeder dramatischen und emotionales Vorhersehbarkeit wie auch von jeglichem psychologischen Realismus.