Die Filme von Christopher Nolan sind exakte Gebilde, kleinteilig, aber nie fragil. Man kommt nicht umhin, sein Handwerk zu bewundern. Zuletzt ließ er in seinem Kriegsfilm „Dunkirk“ drei unterschiedlich schnelle Zeitebenen wie Sekunden-, Minuten- und Stundenzeiger über die Leinwand gleiten, selten nur im gleichen Augenblick vereint. Berühmt wurde er mit dem rückwärts in die Zeit konstruierten Thriller „Memento“, bei dem der Zeiger nach ein paar Minuten im Vorwärtsgang stets einige Minuten zurück in die Vergangenheit sprang. Doch um die Erfahrung der Zeit, um ihr Wesen, ging es in diesen Filmen nie. Sie war ein Instrument unter vielen, mit der Ungleichzeitigkeit als Element, welches die immer neuen Puzzleteile noch ein wenig raffinierter erscheinen ließen.
Ein neuer Kalter Krieg
Sein neuer Film – der Palindrom-Titel „Tenet“ lässt es erahnen – stellt zwei Bewegungen neben- und gegeneinander. Man reist nicht einfach durch die Zeit, sondern kehrt die Entropie der Dinge um, arrangiert ihr Streben Richtung Unordnung neu. Dieser Prozess wird „Inversion“ genannt. So fließen die Ereignisse dann vor und zurück, oft sogar gleichzeitig. Nolan imaginiert als Folge dieser Technologie einen neuen Kalten Krieg, nicht zwischen Nationen, sondern zwischen Gegenwart und Zukunft. Er droht, ein heißer zu werden. Wo die Zeit durchschritten werden kann wie der Raum, also ein eigener Raum wird, gibt es auch jemanden, der ihn erobern will. Nuklearer wird temporaler Krieg, die Inversion ist dabei Ursache und Waffe zugleich.
Zumindest eines bleibt aus den alten Geschichten des Kalten Kriegs erhalten: Der Schurke, der die Welt ins Unglück zu stürzen droht, stammt aus Russland. Die genauen Pläne von Andrei Sator (Kenneth Branagh) liegen im Verborgenen; sicher ist nur: „Es geht um unser Überleben.“ Um seine Machenschaften zu vereiteln, reist der namenlose Protagonist (John David Washington) um die Welt, ausgestattet lediglich mit einer Geste (ineinander verschränkte Finger) und einem Wort: Tenet. Unterstützt wird er von Sators entfremdeter Ehefrau Kat (Elizabeth Debicki), die aus ihrem beengten Leben unter seiner Kontrolle entkommen will. Auch der geheimnisvolle Neil (Robert Pattinson) scheint auf seiner Seite zu stehen. Doch trauen kann man niemandem, und die Zeit, man mag es nicht glauben, läuft ab.
Trotz allen Aufhebens um die temporalen Vexierspiele ist „Tenet“ im Kern ein Agentenfilm. Die Science-Fiction-Elemente sind zwar für den Plot relevant, ordnen jedoch nicht seine gesamte Struktur. Genretypisch reist man von Schauplatz zu Schauplatz, nach Estland, Italien, Indien, Dänemark, Norwegen, Großbritannien und in die USA. Die Orte wirken lediglich ein wenig grauer als in einem James-Bond-Film, so als hätte sich eine dünne Ascheschicht über die gesamte Welt gelegt. Eine zu hohe Farbsättigung gilt Nolan wohl noch immer als unaufrichtig; seine Authentizität trägt Anthrazit. Der Protagonist ist dabei stets auf der Suche nach dem nächsten MacGuffin. Gemälde, Boxen, Algorithmen. Selbst viele Figuren ähneln MacGuffins, sie sind leere Funktionsträger, im Grunde austauschbar. Dass die Figur von John David Washington keinen Namen trägt, erscheint angemessen.
Die Erklärung der Regeln nimmt viel Raum ein
Mit „Inception“ verbindet der Film, dass ein bemerkenswerter Teil des Drehbuchs der Vermittlung von Regeln gewidmet ist. Wie beim Tutorial eines Videospiels bekommt der Protagonist die Inversion vorgeführt, nur um sie fortan in immer komplexeren Szenarien einzusetzen. Selbst spät im Film kommen neue Fußnoten und Sonderregeln hinzu. Dabei ist die Haltung des Films zu seiner Informationsdichte widersprüchlich. „Versuch nicht, es zu verstehen. Fühle es“, werden der Protagonist und damit auch der Zuschauer instruiert. Immer wieder ist die Rede vom Instinkt im Umgang mit der Inversion.
Als Neil einmal verworrene zeitliche Zusammenhänge erklärt, fragt er den Protagonisten spöttisch, ob er schon Kopfschmerzen habe. „Tenet“ kokettiert damit, kompliziert zu sein, erhebt sich stolz über das Publikum, fordert lautstark Anerkennung und Schulterklopfen. Doch kompliziert ist nicht komplex. Um rhetorisch zu brillieren, reicht es nicht, schnell und viel zu reden. Das kann als Herausforderung an den Zuschauer verstanden werden, ihn andererseits aber auch aus der Pflicht entlassen, sich selbst gegen die Entropie des Films zu stemmen.
„Tenet“ soll gleichermaßen als unmittelbare, sinnliche Action-Erfahrung und als Prüfung von Fähigkeiten wie Mustererkennung funktionieren. Mit seinen ohrenbetäubenden Schüssen und Explosionen sowie der stampfenden, dröhnenden Musik von Ludwig Göransson ist der Film ein effektiver Überwältigungsapparat. Für seine große Maschinen-Geschichte entwirft Nolan auch die passende Maschinenwelt. Kaum eine Einstellung, die nicht von Fahrzeugen, Flugapparaten und anderen Stahlmonstren wie Kränen und Windrädern dominiert würde. Viele innere Bewegungen werden von äußeren begleitet. An einem Verhör ziehen endlos lange Züge vorbei, ein mentales Duell wird als Bootsrennen visualisiert.
Immer auf zwei Ebenen zugleich
Als reine Materialschlacht überzeugt der Film. Verschiedene Zeitbewegungen teilen sich einen Raum und erzeugen so eine ungewohnte Dynamik. Perspektivisch ist man immer innerhalb und außerhalb der Gefechte zugleich: Man erlebt sie, versucht jedoch auch, ihre Chronologie zu rekonstruieren. Das mag die erwünsche Immersion untergraben, macht die Erstürmung einer Oper oder einen spektakulären Diebstahl jedoch nicht weniger aufregend.
Wie viele Maschinen scheitert der Film dort, wo Vernunft und Logik an Grenzen stoßen. Das allzu Menschliche wirkte im Werk von Christopher Nolan schon immer wie von einem Computer simuliert, als würde Siri ein Gedicht von Paul Celan vortragen. Auf der Suche nach ihrem Herzen pilgern Filme wie „Interstellar“ bis ans Ende des Universums, ohne je wirklich fündig zu werden. Sie bleiben kalt, stählern. Keine Liebe, die sich nicht doch als Mechanik erwies. In „Tenet“ wird Kat zum Herz der Geschichte erkoren – ihr Kampf um Autonomie, ihre Liebe zu ihrem Sohn. Hier verfällt man in Klischeebilder, die Imagination spült nur Postkarten an die Oberfläche. Über den Humor des Films sollte man besser schweigen.
Was passiert, passiert
„Tenet“ stellt zweifelsohne große Fragen. Konflikte zwischen Gegenwart und Zukunft erleben wir jeden Tag in der ein oder anderen Form. Manchmal blickt man auf die Titelseiten und wartet förmlich auf die Invasoren von Morgen, die mit unseren heutigen Entscheidungen leben müssen. Der Film begreift zudem, dass Geschichten über Bewegungen durch die Zeit auch immer mit tiefen menschlichen Sehnsüchten korrespondieren. Fehler korrigieren, dem eigenen starren Schicksal entkommen, Kontrolle gewinnen. Gekleidet sind diese blankgelegten Träume in Paradoxien und Aporien. Was passiert, passiert.