Als Ali nach Jahren das erste Mal wieder in den Ring steigt, trägt sie ein Affenkostüm. Sie kämpft nicht mehr mit einer Profilizenz, hat keinen Gegner in der eigenen Gewichtsklasse und überhaupt seit Jahren nicht mehr geboxt. In dem Kampf gegen zwei besoffene Halbstarke, die sich ihr nacheinander stellen, geht es auch nicht mehr um einen Weltmeistertitel, sondern um einen einzigen Hundert-Euro-Schein. In der zweiten Runde geht Ali zu Boden. Dennoch ist der nächtliche Schaukampf im verrauchten Keller der „Ritze“, einer der berühmtesten Hamburger Kiezkneipen, trotz der Schläge, des Affenkostüms und der mickrigen Bezahlung, keine solche Demütigung, wie sie Ali sonst nahezu täglich hinnehmen muss. Als Kneipenchef und Boxtrainer Tanne (Tobias Moretti in einer erfreulich uneitlen, wild in alle Richtungen changierenden Performance) dazwischengeht, gibt es für Ali Applaus und Sprechchöre.
Im Ring und außerhalb des Rings
Der Ring ist selbst unter diesen Umständen ein Refugium für Ali. „Im Leben spielen wir das Spiel der Weißen, im Ring spielen wir unser Spiel“, beschreibt ihr Vater einmal das, was die Roma-Familie beim Boxen empfindet. Doch dieser Vater ist es auch, der sie schwanger in den Ring schickt und nach der Geburt ihres zweiten Sohnes für immer aus seinem Leben verstößt. Der Abend im Boxkeller der „Ritze“ ist zwar der Beginn der im Boxfilm so beliebten Comeback-Erzählung, doch die potenzielle Karriere ist eine trügerische Versprechung mit schmerzhafter Erinnerung. Für Ali ist der Boxring untrennbar mit ihrem Vater und ihrem Leben in Rumänien verbunden. In Hamburg ist sie kein Champion mehr, sondern eine Romni oder „Zigeunerin“, wie sie im deutschen Umfeld immer noch genannt wird.
Die Art, in der „Gipsy Queen“ von Rassismus erzählt, ist eine der großen Stärken des Films. Die großen Gesten der Fremdenfeindlichkeit sind selten, die kleinen abfälligen Bemerkungen, das Stirnrunzeln und das Misstrauen sind hingegen immer und überall präsent. Das Stigma der Ethnie klebt an Ali. Mit dem stoischen Blick einer Romni, die es von Kindheit an gelernt hat, dieses Stigma zu ertragen, übergeht Ali den Alltagsrassismus. Alina Serban beißt als Ali mit aller Kraft auf ihren Mundschutz, um ein ums andere Mal die Hiebe in- und außerhalb des Boxrings einzustecken. Ihre Geradlinigkeit kommt ohne jedes Actionhelden-Pathos aus und scheint immer in Melancholie geerdet, und in einer heimlichen, tief verborgenen Hoffnung auf eine Wendung zum Besseren.
Ein vergifteter Traum
So lebt Ali in Hamburg oder, besser gesagt, in Harburg: südlich der Elbe, dort, wo die Hansestadt ein bisschen rauer, hässlicher und proletarischer ist. Die kleine Wohngemeinschaft, in der Ali zusammen mit der angehenden Schauspielerin Mary (Irina Kurbanova) wohnt, erzählt nicht nur von Solidarität, sondern wirft ganz beiläufig auch einen Blick auf die Grade von Armut und Widerstand, die zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft erfahren. Mary verzichtet auf bessere Bezahlung, um ihren Traum einer Schauspielkarriere am Leben zu halten. Alis Traum ist ein schlecht bezahlter, aber solider Job, mit dem sie ihren Kindern vielleicht einmal die Teilnahme an einer Klassenfahrt ins Ausland ermöglichen kann.
Doch der Gang zu einem Harburger Café, wo täglich Wagen vorfahren, um arbeitswillige Migranten einzusammeln, bietet diese Stabilität nicht. Der Cafébesitzer Attila handelt kurz einen einstelligen Stundenlohn aus, wählt eine Handvoll Arbeiter und kassiert seinen Teil. Die Wagen fahren so lange ohne Ali ab, bis sie einfach ohne Attilas Aufforderung einsteigt und sich ein kleines Stück eines vergifteten Traums erkämpft: sieben Euro die Stunde, um mitten in der Nacht einen asbestverseuchten Bau einzureißen.
Baujobs, Putzjobs, Schul-Termine
„Gipsy Queen“ ist ein Box-Drama, das sich weniger für das Boxen als für Fragen von miteinander in Konflikt stehenden Identitäten interessiert. Natürlich laufen alle Stränge im Rampenlicht des Rings zusammen, doch der Weg dorthin ist weniger vom harten Alltag des Boxtrainings als dem Leben als Mutter, Romni und unterbezahlte Arbeitskraft geprägt. Ali wird nach und nach aufgerieben zwischen Baujobs, Putzjobs, dem Sparring, bei dem sie für andere das Kinn hinhält, Schul-Terminen und den wenigen Stunden mit ihren Kindern.
Regisseur Hüseyin Tabak entzieht jeder dieser Lebensgrundlagen die Beständigkeit, die Ali für eine langfristige Perspektive brauchen würde. Mit den Rissen tun sich immer wieder kleine trügerische Chancen auf, doch Ali fehlt die Zeit, die Kraft und das Privileg, das es braucht, diese wirklich nutzen zu können. Sie ist nicht mehr gut genug für den Profisport, nicht „deutsch“ genug für eine andere Karriere und nicht abgesichert genug, um ganz allein für ihre Kinder da zu sein. Ein Dilemma, das kein Weltmeistertitel, keine Einzelleistung und damit auch kein gewöhnliches Comeback-Narrativ auflösen kann. Doch – und dafür eignet sich der Boxsport als ebenso geradlinige wie eindeutige Metapher – nicht mehr in einem Affenkostüm in den Ring steigen zu müssen, ist immerhin ein Anfang.