Los conductos
Drama | Frankreich/Kolumbien/Brasilien 2019 | 70 Minuten
Regie: Camilo Restrepo
Filmdaten
- Originaltitel
- LOS CONDUCTOS
- Produktionsland
- Frankreich/Kolumbien/Brasilien
- Produktionsjahr
- 2019
- Produktionsfirma
- 5 à 7 Films/mutokino
- Regie
- Camilo Restrepo
- Buch
- Camilo Restrepo
- Kamera
- Guillaume Mazloum
- Musik
- Arthur B. Gillette
- Schnitt
- Camilo Restrepo
- Darsteller
- Luis Felipe Lozano (Pinky) · Fernando Úsaga Higuíta (Desquite)
- Länge
- 70 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Drama | Experimentalfilm | Thriller
- Externe Links
- TMDB
Experimenteller Spielfilm über einen drogenabhängigen Aussteiger aus einer Sekte, der jegliche zeitliche, örtliche und moralische Orientierung verloren hat.
Aus dem einem Loch fließt Blut, in das andere Loch fließt Öl. Auf eine blutige Schusswunde folgt das Auffüllen eines roten Motorradtankers. Von solchen visuellen Assoziationen – meistens in Close-ups – wird Pinky heimgesucht. Es sind Bruchstücke seiner Erinnerungen und Halluzinationen, die sich in keine zeitlich und örtlich logische Reihenfolge zusammenfügen lassen. Zu traumatisch waren Pinkys Erlebnisse, und zu chaotisch geht es in seinem bekifften Kopf zu.
Pinky ist einer kolumbianischen Bande entflohen. Luis Felipe Lozano spielt diese Rolle als sein fiktionalisiertes Ich. Der Film basiert auf seiner Lebensgeschichte. Nun haust er als Pinky in einer leeren Lagerhalle in Medellín, schläft auf ausgelegten Kartons und ernährt sich spärlich. Er ist ein drahtiger Mann mit dunklen gewellten Haaren und Vollbart, dessen Alter sich schwer einschätzen lässt. Er raucht, kifft und fährt in schlaflosen Nächten über die leeren Autobahnen mit seinem Motorrad. Mal mit geschlossenen Augen, mal ohne Hände am Lenker und mal beides gleichzeitig. Ein Unfall schleudert Pinky aus der Kadrierung. Ist er verletzt oder tot?
Der (Un-)Sinn der Form
Sicheres Erzählgelände gibt es nicht im Spielfilmdebüt von Camilo Restrepo. Der Film ist extrem fragmentarisch, alles zerfällt in Einstellungen, Schnitte. Ein Voice-Over begründet die offene Form: „Die Welt war Material für uns, das wir willkürlich nutzen konnten, denn wir, die Auserwählten, waren die Einzigen, die wussten, wie man es zu formen hatte.“ Pinky hatte sich aus Einsamkeit einer sektenähnlichen Gruppe angeschlossen, deren Chef, der „Vater“, den Hass der Gesellschaft in Liebe verwandeln konnte. Man könnte auch anders sagen: Er hat seinen Jüngern mit der Form einen Sinn gegeben.
Für Pinky ist dieser Sinn wieder verloren gegangen, und damit auch die Form. Mittlerweile verdient er sein Existenzminimum mit dem Drucken von gefakten Designer-T-Shirts. Adidas prangt in rot-feuchter Farbe auf weißen Stoffballen. Ein anderes Motiv sind stilisierte Feuerflammen, die endlos kopiert werden. Die ganze Lagerhalle ist damit ausstaffiert. Ventilatoren trocknen die Farbdrucke – eine selbst produzierte Hölle. Denn die Kleidungsfirma wurde nur zum Verdecken von anderen, illegalen Geschäften gegründet.
Je tiefer das Loch, desto korrupter das Land
Restrepo, der schon seit ungefähr zwei Jahrzehnten in Frankreich lebt, wirft aus der Distanz einen düsteren Blick auf sein Heimatland Kolumbien. Der Erzähler spricht während Pinkys nächtlichen Autobahntrips von zwei Kindern, die die Tiefe von Schlaglöchern in den Slums ausmessen. Die Metapher über die Korruptheit der Politiker, Geschäftsleute und Kartelle bringt die Kinder zum Lachen, aber auch an den Rand der Armut, zu den Drogen, zu Dolchstichen in Kämpfen, bis hin zu pseudo-religiösen Führern, die in dieser sinnentleerten Gesellschaft Sinn simulieren, aber die Schwachen noch mehr an den Abgrund treiben.
Pinky versucht seinen Ausstieg positiv umzudeuten. Nachts beobachtet er auf der Müllhalde, wie Metall geschmolzen und in einen Trichter gegossen wird: „Die Welt wäre einfacher, wenn sie keine Form annehmen müsste.“ Camilo Restrepo löst die Formen des Films ebenfalls spielerisch auf. Er verwendet körniges 16-mm-Material. In seinem in Locarno ausgezeichneten Kurzfilm „La impresión de una guerra“ (wie „Los conductos“ ebenfalls aktuell auf Mubi) hat er die Stofflichkeit von Zeitungsartikeln, Handyaufnahmen, Wandkritzeleien und Tattoos unter die Lupe genommen, erst getrennt und dann wieder zusammengefügt. Die Materialität der Bilder ist bei ihm so bedeutend wie deren Inhalt. Je genauer man hinsieht, umso weniger sieht man – Antonionis „Blow up“-Effekt. Doch Pinky trauert dem Verlust der festen Form nicht nach. Das geschmolzene Metall auf der Müllhalde nimmt für ihn nur eine neue Gestalt an. Pinky nennt es eine „Wiederauferstehung der Dinge“.
Wege zur Freiheit
Auch in „Los conductos“ verschwinden Motive und tauchen später aus anderen Perspektiven wieder auf. Marschierende Beine, gemalte und echte Waffen, Löcher in Körpern und in Straßen bekommen im Laufe des Films eine neue Bedeutung. Restrepo zwingt sich in die Enge seiner 4:3-Kadrierung, entdeckt aber dafür die Freiräume der Montage. Er ist auch sein eigener Cutter. Indem er Hände, Füße, Wunden, Gesichter und Körper mit anderen Erzählungen verknüpft, emanzipiert sich Pinky immer mehr von seiner eigenen Leidensgeschichte. Am Ende hüpft Pinky als Maskottchen verkleidet einer Militärparade davon. Damit weicht der Nebel des Deliriums den klaren Gedanken an die Freiheit, und schon hat der Film eine vollkommen neue Form angenommen.