Die Wege des Lebens - The Roads Not Taken

Drama | Großbritannien 2019 | 86 Minuten

Regie: Sally Potter

Ein demenzkranker Schriftsteller verliert sich zunehmend in den Erinnerungen seines Lebens, sodass er nicht mehr allein zurechtkommt. Im Verlauf eines Tages, an dem ihn seine Tochter zu verschiedenen Ärzten begleitet, driftet er immer wieder in seine Gedankenwelt ab, während die Tochter eine für sie unerwartete Nähe zu dem hilflosen Vater aufbaut. Feinfühlig-subtiles Drama, das an der Schnittstelle von Wirklichkeit und Halluzination den Wirrnissen eines Lebens nachforscht. In seiner assoziativ-dichten Verflochtenheit erfordert der Film viel Aufmerksamkeit, da er auch scheinbare Nebensächlichkeiten wahrnimmt. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE ROADS NOT TAKEN
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Adventure Pictures
Regie
Sally Potter
Buch
Sally Potter
Kamera
Robbie Ryan
Musik
Sally Potter
Schnitt
Sally Potter · Emilie Orsini · Jason Rayton
Darsteller
Javier Bardem (Leo) · Elle Fanning (Molly) · Salma Hayek (Dolores) · Laura Linney (Rita) · Branka Katic (Xenia)
Länge
86 Minuten
Kinostart
13.08.2020
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Zorro
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Drama über eine junge Frau, die ihrem demenzkranken Vater einen Tag lang beisteht, an dem er sich immer wieder in seinen Erinnerungen und der Frage verliert, ob sich sein Leben anders hätte entwickeln können.

Diskussion

Ein Mann – er ist nicht mehr der Jüngste, aber auch noch nicht betagt – liegt in einem Bett. Er haust irgendwo in New York in einer Wohnung direkt unter/neben einer Subway-Station. An seiner Tür wird Sturm geklingelt, das Telefon läutet. Der Mann indes, schlafverwirrt, abwesend, dämmert im Bett vor sich hin, scheint Klingeln und Läuten nicht zu hören. Gemeinsam stürmen schließlich seine Tochter Molly und die Haushaltshilfe Xenia in sein Appartement: Leo – er wird konzis-intensiv gespielt von Javier Bardem, dessen Auftritt hier in manchem unmittelbar an denjenigen in „Das Meer in mir“ (2005) erinnert – leidet an Hirnatrophie, Gehirnschwund, einer Art von Demenz.

Eine latente Unsicherheit für die Figuren, aber auch die Zuschauer

Leo soll heute zum Zahnarzt, anschließend zum Augenarzt. Molly, jung, ein wenig quecksilbrig, ein bisschen hibbelig, Journalistin von Beruf – sie wird sehr erwachsen, sehr ernsthaft gespielt von Elle Fanning – hat später am Tag ein wichtiges Meeting. Doch sie ist außer Xenia die einzige, die sich um Leo kümmert. Dies offensichtlich eine Weile schon. Wie man als Zuschauer aufgrund der ersten Szenen ebenfalls annehmen muss, hat sich Leos Zustand akut verschlechtert. Dennoch versucht Molly mit Leo normal zu reden; ihn auf die Beine zu bekommen und aus dem Haus. Dass er zur Selbständigkeit nicht (mehr) fähig ist, dass sie ihn durch den Tag begleiten muss und schließlich bei ihm übernachtet, scheint nicht geplant.

Doch „The Roads Not Taken“ ist ein Film, der auch in der Rezeption vieles, wenn nicht alles, offenlässt. Es kann so sein, oder ein bisschen anders. Es gibt verschiedene innere und äußere Wirklichkeiten sowie unterschiedliche Zeitebenen, und sie gehen unmittelbar ineinander über. Das ist irritierend und verunsichert. Nicht nur Molly, sondern auch die Zuschauer.

Erinnerungen dringen in die Gegenwart

Leo findet kaum mehr Worte, um sich mitzuteilen, und spricht undeutlich. Das Geschehen um ihn herum scheint nur mehr bruchstückweise in sein Bewusstsein zu dringen; stimuliert von Geräuschen oder Lichtreizen, verliert Leo sich immer wieder in Erinnerungen oder Träumen beziehungsweise den Fragmenten davon, eben in dem, was ihm sein Gehirn vorgaukelt. Es sind konkret zwei Situationen aus der Vergangenheit, die ihn beschäftigen. Momente, in denen er, von Beruf Schriftsteller, sich als Mann, Gatte und Vater zu entscheiden hatte und dabei in ein moralisches Dilemma geriet.

Das erste Mal in jungen Jahren. Leo lebt mit seiner ersten großen Liebe, Dolores, in einem kleinen Haus, abgelegen irgendwo in Mexiko, sie lieben sich leidenschaftlich. Doch ihr gemeinsamer Sohn ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Dolores sucht am Dia dos Muertos – Mexikos traditionellem Tag der Toten – Trost auf dem Friedhof, bei Gott und den Geistern. Leo aber glaubt nicht und kann nicht glauben, dass Glauben hilft. Er zögert, bleibt erst zuhause, rennt Dolores dann aber nach. Begleitet Dolores schließlich doch auf den Friedhof, läuft gleichzeitig aber auch davon.

Die Tochter wird mit Seiten des Vaters konfrontiert, die sie nicht kannte

Die zweite Szene spielt Jahre später. Leo, inzwischen in die USA emigriert, verheiratet mit Ruth und zum zweiten Mal Vater geworden, hat sich auf eine griechische Insel abgesetzt, um in Ruhe arbeiten zu können. Er sucht nach dem Ende für seinen nächsten Roman. Hängt in einer Kneipe am Hafen seinen Gedanken nach, schäkert mit zwei Touristinnen. Schon damals verfängt er sich zwischen Fantasie und Wirklichkeit, seinen Gedanken und dem Gespräch. Schließlich rudert er, blindlings den Touristinnen folgend, hinaus aufs Meer. Er wird gerettet und muss sich entscheiden. Fürs Leben. Für Ehe und Familie, oder nicht. Für eine Zukunft mit Ruth und Molly oder das Alleinsein.

Von Ruth, erfährt man später, ließ Leo sich scheiden. Für Molly aber blieb er der Vater. Ihre Beziehung ist innig, wird durch Leos Krankheit aber zunehmend gestört. Denn die Demenz fördert Begebenheiten aus Leos früher Vergangenheit zu Tage, von denen Molly nichts, oder nur wenig weiß. Es wird nicht einmal ganz klar, ob sie um ihren Halbbruder weiß, der starb, bevor sie geboren wurde.

Sally Potter ließ autobiografische Erfahrungen einfließen

Molly versucht immer wieder zu erraten, wo Leo sich in seinen Gedanken befindet und was er ihr mitzuteilen versucht. Gleichzeitig bugsiert und begleitet sie ihn durch diesen einen Tag, der mit seinen Terminen und ihrer Agenda viel zu überfrachtet ist und durch Leos impulsives Verhalten und den in Folge davon eintreffenden Unvorhersehbarkeiten immer turbulenter verläuft. Er gipfelt darin, dass Leo, derweil Molly schläft, sich unbemerkt aus der Wohnung schleicht und im nächtlichen New York verliert.

Sally Potter hat in „The Roads Not Taken“, dessen Titel einem Gedicht von Robert Frost entliehen ist, eigene Erfahrungen verarbeitet. Ihr Bruder ist jung an Demenz erkrankt. Sie hat ihn in seinen letzten zwei Jahren oft besucht, und hatte sich, wie sie erklärte, dabei immer wieder gefragt, wohin er in den Phasen seiner geistigen Abwesenheit verschwinde. Dabei sei ihr dieses Verschwinden nicht nur als Leiden erschienen, sondern immer auch als eine Möglichkeit. Als eine Freiheit, mehrere Personen zu sein und frei durch Räume und Zeiten zu wandern.

Räume und Zeiten fließen ineinander

Tatsächlich ist „The Roads Not Taken“ nicht wirklich ein Film um eine Krankheit, sondern ein Film, der basierend auf krankheitsbedingten Dispositionen (narrative) Möglichkeiten erprobt. Das Ineinanderfließen unterschiedlicher Zeiten und Räume gehören ebenso dazu wie die gleichzeitige multiple Befindlichkeit eines Protagonisten und die stete Suche eines Mannes nach (s)einer Identität, die in der Begegnung mit der Tochter auf die Spitze getrieben wird. Was für ein Ich bin ich, wenn ich das Gegenüber nicht mehr erkenne? Und was oder wer wäre ich, wenn ich da oder dort im Leben eine andere Entscheidung gefällt, einen anderen Weg eingeschlagen hätte?

Es wirkt vieles indeterminiert in „The Roads Not Taken“, und die sprunghafte und elliptische Erzählweise wird verschärft durch eine permanente Verschiebung logischer Wichtigkeiten. Um einen Begriff der Sprachwissenschaft beizuziehen, könnte man sagen, „The Roads Not Taken“ sei ein Versuch, einen Film im Irrealis zu erzählen. Das erfordert von der Rezeption ein unbedingtes Sich-Darauf-Einlassen ebenso wie eine erhöhte Aufmerksamkeit für Details und vermeintliche Nebensächlichkeiten.

Eine große und schöne Liebeserklärung

Denn obwohl er in vielem zufällig erscheint, ist „The Roads Not Taken“ überaus durchdacht. Die Montage ist kühn, die Schilderung der drei Settings stimmungsvoll-präzis. Der Soundtrack – von Sally Potter selber komponiert – ist vielleicht eine Spur zu geigenlastig, zu schwülstig, und auch den tröstlichen Happy-End-Moment gegen Schluss hätte es vielleicht nicht gebraucht. Alles in allem aber ist „The Roads Not Taken“ eine große und schöne Liebeserklärung. Nicht nur der Tochter im Film an ihren Vater, sondern auch der Regisseurin an ihren früh verstorbenen Bruder. Und nicht zuletzt an die schwindelerregenden Möglichkeiten eines filmischen Erzählens, die es offenlassen, ob die Erinnerungen eines Protagonisten sich aus der tatsächlichen Vergangenheit seines Lebens ernähren oder (Neben-)Produkte seiner (einstigen) schriftstellerischen Kreativität sind.

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