Es sind ruhige Bilder, mit denen dieser unruhige Film beginnt: Auf einer Wiese, im Sonnenschein, der friedliche Frühlingsstimmung suggeriert. Zwei Soldaten in britischen Uniformen ruhen sich aus, der eine sitzt an einen Baum gelehnt. Dann erreicht sie ein Befehl, und bald bleibt vom Frieden des Augenblicks nichts übrig. Die Kameraperspektive weitet sich und erlaubt einen ersten Blick auf eine zerfurchte Grabenlandschaft, die die Handlung schnell im Stellungskrieg der Westfront des Ersten Weltkriegs lokalisiert. Ein Blick auf Massen menschlicher Kämpfer, auf den Krieg als maschinengleichen Betrieb, in dem der Einzelne nur ein kleines Rädchen ist; wenn überhaupt, denn das Laufen der Maschine hängt von keinem dieser Rädchen ab. So ist die Metapher eines Termitenhaufens wohl die Treffendere, mit seinem chaotischen Gewimmel, dem doch eine geheime Ordnung und strenge Steuerung zugrunde liegen.
„Wenn ihr scheitert, wird es ein Massaker“
In ein solches Steuerungsorgan, einen Befehlsstand, werden die zwei befohlen. Sie sind Unteroffiziere, von denen wir nur die Nachnamen erfahren: Schofield (George Mackay) und Blake (Dean Charles Chapman). Ein General erklärt ihnen, dass sie gemeinsam als Melder auf eine hochgefährliche Mission geschickt werden; „freiwillig“, aber wer könnte diesen Befehl schon verweigern? Durch das Niemandsland sollen sie sich auf dem direkten Weg zu einer vorgeschobenen Stellung durchschlagen. Den dortigen Einheiten muss ein Befehl übermittelt werden, der einen geplanten Einsatz untersagt, der diese in eine tödliche Falle führen würde. „Wenn ihr scheitert, wird es ein Massaker“, fürchtet der General.
Weniger in dem, was der von Colin Firth gespielte Kommandeur sagt, als wie und in welchem Tonfall, scheint erstmals ein Motiv hervor, das im Film noch mehrfach auftaucht, wie es in britischen Kriegsfilmen überhaupt immer wieder eine wichtige Rolle spielt, etwa in Joseph Loseys „King & Country“ (1964): das des Klassenkonflikts, der die Offizierskaste und die „stiff upper lip“ ihrer Oberklassenherkunft von den einfachen Soldaten mit ihrem „Cockney“-Englisch grundsätzlich trennt. Damit verbunden ist die unterschwellige Behauptung, dass die Truppen die Launen und Fehler oder einfach den Starrsinn und andere Charakterschwächen ihrer Vorgesetzten blutig ausbaden müssen. Denn warum die Nachricht nicht eigentlich anders zu übermitteln wäre, per Funk, Flieger oder Brieftauben, oder auf längerem Weg, aber mit deutlich schnelleren Fahrzeugen – diese naheliegenden Rückfragen werden hier nie zum Thema.
Die Aufgabe für Schofield und Blake ist gesetzt. Und damit auch der bis zu einem gewissen Grad künstliche Plot dieses Films und seine technischen Herausforderungen. Denn Regisseur Sam Mendes hat sich entschieden, seine Geschichte als „One-Shot-Movie“, also in einer einzigen Einstellung und der subjektiven Perspektive der beiden Hauptfiguren zu erzählen. Das hat zunächst den Vorzug, dass die Handlung enorm spannend ist und von immer neuen aus dem Nichts kommenden Überraschungen und Wendungen geprägt. Auf ihrem Weg und im Wettlauf gegen die Zeit müssen die zwei nicht nur immer wieder Stacheldraht und verlassene Schützengräben überwinden, Leichenberge und riesige Granattrichter, Minenfelder und Sprengfallen; sie sind dabei auch ständig von Scharfschützen des Feindes bedroht, ebenso möglichen Fliegerangriffen, versprengten Truppenteilen und einzelnen Gegnern ausgesetzt.
Der Krieg als ästhetische Erfahrung
Dies bewirkt, dass sich das Publikum ganz auf die Erfahrung der Hauptfiguren einlassen kann, ihren Stress und die ständigen Bedrohungen, die immer neuen Schockerlebnisse und den Taumel des Augenblicks mitempfinden kann – bis zu einem gewissen Grad, denn die Todesgefahr selbst wird auch derjenige kaum adäquat spüren, der über ein Übermaß an Sensibilität verfügt. Ähnlich wie in Filmen wie „Das Boot“ oder „Der schmale Grat“ wird der Krieg hier zu einer ästhetischen Erfahrung, in der Körperliches, lose, unverbundene Eindrücke und sinnliche Gewissheiten im Zentrum stehen, nicht „das große Ganze“, nicht Moral und Sinnfragen.
Zugleich aber hat das formale Verfahren paradoxe Folgen für das innerliche Involviertsein des Zuschauers. In die direkte Sinnlichkeit mischt sich eine ebenso grundsätzliche Distanz. Zwar wird, wer nicht weiß, worauf er sich hier einlässt, es erst allmählich merken, dass der Film scheinbar ohne Schnitt gedreht und in der Einheit aus Zeit und Raum erzählt ist. Wer es weiß, dessen Blick ist von Anfang an ein doppelter: Gerichtet zum einen darauf, was dieser Film zeigt. Noch viel mehr aber darauf, wie er das tut. Denn tatsächlich wirft bei aller Eleganz und fast unmerklichen Geschmeidigkeit der Kamera die Perfektion der Choreographie immer wieder schon im Moment der Betrachtung die Frage auf, wie denn nun diese oder jene Szene in der Praxis gemacht wurde, und wo die Live-Inszenierung durch digitale Effekte ergänzt wird. Damit ist der Betrachter beteiligt und herausgerissen zugleich.
Mitunter ähnelt der Film dramaturgisch einem Computerspiel
Somit ist das Hauptproblem von „1917“, wie ihn seine Form dominiert. Das Prinzip einer einzigen Kamera-Einstellung wird im Übrigen nicht komplett durchgehalten. Zwar gibt es keine erkennbaren Schnitte, doch sehr wohl einige „Sollbruchstellen“ wie Explosionen, wie Reißschwenks und Schwarzblenden. Zudem bricht Mendes den in der ersten Filmhälfte sehr konsequenten Naturalismus der Chronologie im zweiten Teil mehrfach, indem er die Nacht in Sekunden zum hellen Tag werden lässt, oder ein offenkundig kilometerweiter Weg in Minutenlänge zurückgelegt wird.
Das muss man dem Film nicht vorhalten – im Gegenteil ist solche Verdichtung eine richtige Entscheidung. Denn je länger die Handlung dauert, umso mehr wird aus dem Drama ein Parcours, an dem die Hauptfiguren immer neue Stationen erreichen, Situationen bewältigen und so ihrem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen. Würde es nicht verdichtet, müsste diese Redundanz ermüden. Mitunter ähnelt „1917“ darin dramaturgisch einem Computerspiel. Dann wieder öffnet sich der Film in expressiven, betont künstlich wirkenden Szenen hin zum Poetischen.
Dies ist bereits seit Hitchcocks „Cocktail für eine Leiche“ keineswegs der erste „one-shot-movie“ der Filmgeschichte. Man erinnert sich an Mike Figgis’ ambitionierten „Time Code“ (mit vier parallelen Handlungssträngen), Alexander Sokurows „Russian Ark“, an Sebastian Schippers „Victoria“ oder an Alejandro González Iñárritus „Birdman“. In diesem Fall allerdings wird der visuelle Bewusstseinsstrom auf ein Massengeschehen und auf den Krieg übertragen.
Als Spielfilm des Ersten Weltkriegs ist dieser Film ein Solitär. Seine Haltung zum Krieg ist von den bekannten Mustern gleich weit entfernt: Nicht „Stahlgewitter“, nicht Verklärung des Kriegs zur inneren Erlebnissteigerung, aber auch nicht „Im Westen nichts Neues“-Pazifismus findet sich hier. Mendes zeigt das Grauen des Krieges, zeigt ekelerregende Erlebnisse wie den Griff in die offene Wunde eines Toten, Tiere, die an Leichen knabbern. Er zeigt aber auch den Sinn, der in einzelnen Kriegshandlungen liegen kann, der sich situativ ergibt: Im Töten eines Feindes, um nicht selbst getötet zu werden, im Riskieren des Lebens, um andere Menschen zu retten.
Ein existentielles Drama über Menschen in Todesgefahr
Das simple Klischee, nach dem jeder Krieg sinnlos sei, wird daher so wenig bemüht, wie patriotische Narrative. Vorstellungen von „Heldentum“ können sich einstellen, wenn man die Entscheidung von Schofield und Blake heldenhaft nennen will, sich selbst potentiell zu opfern, um das Leben von 1600 anderen zu retten. Zweifellos ist es auch heroisch, wie die beiden hier in bestimmten konkreten Situationen handeln, zugleich zeigt dies der Film nie moralisch überhöht, eher als Selbstverständlichkeit oder als Ergebnis eines geradezu animalischen Überlebensinstinkts. Am ehesten kommt einem noch Kubricks „Wege zum Ruhm“ in den Sinn, der sich auch auf die Erfahrungen einer Figur konzentriert, allerdings weitaus stärker ein moralisches Drama entfaltet.
Trotzdem ist „1917“ weniger ein Film über den Krieg an sich, seine Erfahrungen und seine Bewertung, als ein existentielles Drama über Menschen in Todesgefahr, über Menschen, die in eine Situation hineingeworfen sind, die sie nicht gewählt haben, in der sie sich aber bewähren müssen und in der jede Entscheidung genauso wie ihr praktisches Können und die Wachheit ihrer Instinkte und Reaktionsfähigkeit zu einer Frage des persönlichen Überlebens wie der Ethik werden. Hier wird das Historiendrama zu einem aktuellen Film mit universaler Dimension. „1917“ ist weit mehr als eine respektheischende Leistung von erstaunlicher technischer Athletik: Es ist ein menschlicher Film, der differenziert von unmittelbarer Humanität erzählt – darin zumindest ähnelt er Meisterwerken wie „Der schmale Grat“ und „Wege zum Ruhm“.