Das Wörtchen „normal“ mag Ruth Westheimer gar nicht. In den Augen der US-amerikanischen Soziologin sind Begriffe wie „Norm“ oder „Normalität“ im Zusammenhang mit der menschlichen Sexualität völlig fehl am Platz. Erlaubt ist, was Menschen Spaß macht und in der Öffentlichkeit nicht stört. Grundsätzlich sind alle sexuellen Vorlieben und Nöte in Ordnung; dass man mit manchem bisweilen Schwierigkeiten hat, liegt in der Natur der Sache beziehungsweise an der Moral der Gesellschaft.
Unermüdlich unterwegs
Diese Botschaft verbreitet Westheimer, seitdem sie in den 1980er-Jahren als Moderatorin der Radiosendung „Sexually Speaking“ zum ersten Mal ins Mikrofon sprach. Mit der Feinfühligkeit, mit der sie auf (fast) alle Fragen eingeht, aber auch mit ihrer Unbefangenheit hat sie das Reden über und die Haltung zur Sexualität in den letzten vier Jahrzehnten in den USA maßgeblich beeinflusst; noch heute ist die über 90-jährige Frau unermüdlich unterwegs. Sie hält Vorträge, unterrichtet, veröffentlicht Ratgeber und schreibt Kolumnen. Auch im Fernsehen, bei Diskussionsveranstaltungen und auf Panels ist die zierliche Frau mit ihrem umwerfenden Charme, dem ansteckenden Lachen und einer wachen Schlagfertigkeit nach wie vor ein gern gesehener Gast.
Bezeichnenderweise beginnt „Ask Dr. Ruth“ mit einer Reihe erheiternder Momente von Live-Auftritten. Die meisten zeigen, wie Westheimer gestandene Moderatoren wie David Letterman oder Jay Leno auffordert, tabuisierte Begriffe wie „Blue Balls“, „Vagina“ und „Penis“ in den Mund zu nehmen oder zumindest das Wort „Sex“ so enthusiastisch auszusprechen, dass es lustvoll klingt. In anderen Aufnahmen sieht man, wie Westheimer schon vor Jahrzehnten stockend vorgebrachte Fragen mit einem aufmunternden Lächeln beantwortet, die heute längst nicht mehr brisant erscheinen.
Ihrer Zeit weit voraus
Tatsächlich war Ruth Westheimer ihrer Zeit oft voraus und hat beeindruckend (Medien-)Geschichte geschrieben. So war sie die erste lizensierte Sex-Therapeutin, die im Radio offen über Sex sprach, anfangs in einer aufgezeichneten Sendung von 15 Minuten Länge im Spätprogramm eines New Yorker Musiksenders. Ein Jahr später wurde die Sendezeit verlängert und live gesendet; ab 1983 war die Sendung überall in der USA zu empfangen. 1984 erhielt Westheimer ihre eigene Fernsehsendung; da die meisten US-Amerikaner ihren Nachnamen nur schwer aussprechen können, wurde aus ihr schlicht „Dr. Ruth“.
Von Anfang an kämpfte Westheimer gegen Tabus und gesellschaftliche Missverständnisse. Schon in den frühen 1980er-Jahren, als der weibliche Orgasmus noch kaum ein Thema war, sprach sie über die sexuellen Bedürfnisse von Frauen und reklamierte das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch. Als die ADIS-Krankheit ausbrach und eine Welle der Homophobie hervorrief, propagierte sie Aufklärung als wichtigstes Mittel im Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten und setzte sich gleichzeitig für Gleichberechtigung und Gender-Diversität ein.
Das alles ist bestens dokumentiert und würde mehr als genug Stoff und Material für einen Film über den Einfluss bieten, den Westheimer auf die Entwicklung der westlichen Sexual- und Moralgeschichte der letzten 40 Jahre hatte. Doch Regisseur Ryan White interessiert etwas anderes fast noch mehr: Westheimers Biografie: das Schicksal, das die am 4. Juni 1928 in Karlstadt als einziges Kind jüdisch-orthodoxer Eltern geborenen Karola Siegel zu Ruth Westheimer werden ließ, einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der US-amerikanischen Populärkultur.
Das Schicksal einer deutsch-jüdischen Migrantin
Der von Westheimer als behütet dargestellten eigenen Kindheit im zunehmend von den Nazis dominierten Deutschland folgt kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die Trennung von den Eltern und die Emigration in die Schweiz, wo sie bis kurz nach Ende des Krieges in einem Kinderheim lebt. Ihre Jugend war keine glückliche Zeit; die Sehnsucht nach der Familie und die Ungewissheit über deren Schicksal plagten Westheimer; überdies wurden die anderen Heimkinder den Flüchtlingen gegenüber bevorzugt. Dennoch erlebte Westheimer in der Schweiz ihre erste Liebe und entdeckte, was sie als 15-Jährige in ihr Tagebuch schrieb und sich zur Lebensphilosophie macht: dass „die Natur alles derart wunderbar eingerichtet hat, dass man sich kaum vorstellen kann, dass irgendetwas davon verwerflich sein könnte“.
Es folgen einige Jahre in einem Kibbuz in Israel, eine neue Liebe und eine kurze erste Ehe, ihr Einsatz bei der Armee, ein Bombenanschlag, der sie fast ein Bein kostete. Dann ging sie nach Paris, wo sie an der Sorbonne studierte, schwanger wurde, ein zweites Mal heiratete. Eine Abfindung aus Deutschland ebnet der jungen Familie den Weg in die USA. Beim Anblick der Freiheitsstatue fühlt sich Westheimer zum ersten Mal im Leben angekommen. Es folgen die zweite Scheidung, einige Jahre später die große Liebe und die dritte Ehe mit Fred Westheimer sowie ein zweites Kind; gleichzeitig studierte Westheimer eifrig weiter und verfolgte ihre Karriere.
„Bloß weil ein Mensch zwei schwierige Beziehungen hinter sich hat, bedeutet das noch nicht, dass auch die dritte im Desaster enden muss“, erklärt Westheimer Jahre später einem Ratsuchenden. Fragt man sie nach dem Geheimnis ihres Erfolgs, meint sie bescheiden, dass dies wohl daran liege, dass sie klein und blond sei und die Menschen, die ihren Rat suchen, den Eindruck hätten, mit ihrer Großmutter zu reden.
Ein Stück Zeitgeschichte
Ryan White hat einige Wochen mit der Protagonistin vor deren 90. Geburtstag verbracht. Er war dabei nicht nur bei ihr zu Hause Gast, sondern reiste mit Westheimer auch nach Israel und in die Schweiz. Aufnahmen aus dieser Zeit verbindet der Film patchworkartig mit Archiv-Materialien, Auszügen aus Westheimers Tagebüchern und Fotos. Wo genuine Bilder fehlen, hauptsächlich aus ihrer Kindheit und Jugend, arbeitet der Film mit Zeichentrick-Elementen. Ergänzend zu Westheimers Erzählungen und Erinnerungen treten Gespräche und Begegnungen mit ihren Kindern und Enkeln.
„Ask Dr. Ruth“ ist ein in vielem geglückter, dicht verflochtener Film. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Ruth Westheimer eine beeindruckend kameraaffine, sehr charmante und charismatische Protagonistin ist, sondern auch mit der Kunst von Ryan White, der zu ihrer innersten Persönlichkeit vordringt. Das lässt den Film über eine biografische Erkundung hinaus zur lebhaften Schilderung von 90 Jahren intensiv erlebter Zeitgeschichte werden.