Das letzte Klavierstück, das Zuzana Ruzickova spielte, ehe sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, war die Sarabande aus Bachs Englischer Suite in e-Moll. 75 Jahre später sitzt Ruzickova in ihrer Prager Wohnung vor einem kleinen Holztisch und drückt eine CD mit einer Aufnahme des Stücks in ein klappriges Abspielgerät. Es ist eine der berühmtesten Tonaufnahmen dieses Werkes – und sie stammt von ihr.
Die tschechische Cembalistin spielte als erste und bislang einzige Musikerin Bachs gesamtes Klavierwerk auf dem Cembalo ein. 2016, ein Jahr vor ihrem Tod, wurden diese Aufnahmen neu veröffentlicht. Von all den unzähligen Stücken, die Ruzickova während ihrer Laufbahn interpretierte, ist ihr die Sarabande aus der Englischen Suite in e-Moll wie kein anderes in Erinnerung geblieben.
Die Musik von Johann Sebastian Bach rettet ihr Leben
Dass Bachs Musik ihr in Theresienstadt und später in Auschwitz und Bergen-Belsen das Leben rettete, hat Ruzickova oft erzählt. Einmal mehr beteuert sie dies in „Zuzana - Music is Life“, der kurz vor ihrem Tod entstand. Etwas sei über uns, sagt Ruzickova, das allem einen Sinn gäbe, das wir aber nicht sehen könnten. Dank Bach können wir es zumindest hören. Aus diesem spirituellen Gefühl bezog sie eine Kraft, die ihr half, die entsetzliche Zeit in den Konzentrationslagern zu überstehen.
In Theresienstadt musste sie hilflos zusehen, wie ihr Vater krank wurde und innerhalb weniger Tagen starb. Vergeblich hatte sie versucht, einen Arzt aufzutun. Nie vergaß sie den fürchterlichen Geruch von verbranntem Fleisch, der ihr entgegenschlug, als sie in Auschwitz ankam. In „Zuzana“ erinnert sie sich, wie sie beim Anblick der Rauchschwaden, die aus den Gaskammern aufstiegen, zu heulen anfing und ihre Mutter anflehte: „Ich möchte leben, ich möchte so sehr leben!“
Ruzickova entging nur knapp den Gaskammern. Als sie mit 18 Jahren von britischen Soldaten aus Bergen-Belsen befreit wurde, hatte sie hohes Fieber und wog nur noch 30 Kilo. Im Krankenhaus traf sie ihre Cousine Dagmar wieder, die an Tuberkulose im Endstadium litt. Drei Tage verbrachte Zuzana an ihrem Bett. Sie versprach, gemeinsam in ihre Heimat nach Pilsen zurückzukehren. Dann starb Dagmar.
Tränen der Erinnerung
Es ist nicht das erste Mal, dass Ruzickova vom Tod ihrer geliebten Cousine erzählt. Und doch kann sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen kommen, wenn sie sich daran erinnert. Ein überwältigend schmerzlicher Moment, der etwas von dem spürbar macht, was sich letztlich nicht vermitteln lässt. Ein ausgeblichenes Schwarz-weiß-Foto aus Kindertagen zeigt die beiden Cousinen fröhlich lächelnd nebeneinander.
Sie habe eine glückliche, idyllische Kindheit gehabt, sagt Ruzickova. Ganz unbeschwert und gedankenlos, bis auf einmal die Nazis da gewesen seien. Die Rassengesetze. Die Vernichtungslager. Als Zuzana nach dem Krieg von einer Karriere als Pianistin träumte, warf der Klavierlehrer einen kurzen Blick auf ihre von Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit zerschundenen Hände. Sie sei eine hübsche Frau, stellte er rüde fest, später könne sie vielleicht ihrem Mann abends am Klavier vorspielen, mehr nicht.
Ruzickova aber ließ sich davon ebenso wenig beirren wie in den Jahrzehnten danach von den Repressalien des tschechoslowakischen Regimes, das jeweils nur ein jüdisches Mitglied in der Philharmonie duldete. Beharrlich weigerte sie sich, der kommunistischen Partei beizutreten.
Eine starke, faszinierende Persönlichkeit
„Zuzana - Music is Life“ ist mehr als das Porträt einer außergewöhnlich talentierten Künstlerin und Holocaustüberlebenden. Die Dokumentaristen Peter Getzels und Harriet Gordon Getzels verknüpfen Zeitzeugeninterviews mit historischem Archivmaterial und halten so fest, dass Ruzickovas Überleben in zwei Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein Stück europäischer Zeitgeschichte ist.
Man erahnt Ruzickovas Stärke, wenn man ihr beim Cembalo-Spiel oder bei ihren Geschichten aus ihrem Leben zuhört. Schwächen offenbart der Film immer dort, wo er das nicht tut. Etwa wenn andere minutenlang davon schwärmen, was für ein großartiger Mensch Zuzana doch sei. Solche Huldigungen mögen noch so richtig sein, klingen irgendwie aber doch immer falsch. Ausgerechnet dort, wo für Ruzickova alles kumulierte, hört der Film nur mit halbem Ohr hin: bei Bach. Dessen Musik ist zwar allgegenwärtig, läuft aber doch immer nur im Hintergrund. Es gelingt dem handwerklich soliden Dokumentarfilm nie, die Seele der Musik, die seine Protagonistin so sehr liebte, zum Klingen zu bringen.
Der Zettel mit den Noten flatterte in der Luft
Umso mehr geht das, was Zuzana Ruzickova zu erzählen hat, unter die Haut. Ihre Worte hallen lange nach. Noch bevor die damals 15-Jährige nach Theresienstadt verschleppt wurde, hatte sie sich den Anfang von Bachs Sarabande auf ein Stück Papier notiert. Den Zettel trug sie als eine Art Talisman stets bei sich. Als sie während der Deportation mit anderen Kindern in einen Waggon gepfercht und von ihrer Mutter getrennt wurde, verlor sie ihn. Das Papier flatterte durch die Luft. Ihre Mutter sah es, und da sie wusste, wie wichtig Zuzana diese Noten waren, rannte sie los, fing den Zettel auf, wollte ihn ihrer Tochter übergeben und wurde dann zu ihr hochgezogen. Nur deshalb blieben die beiden zusammen. Nie mehr konnte Zuzana Ruzickova später die Sarabande aus Bachs Englischer Suite in e-Moll spielen, ohne daran zu denken.