Milla (Eliza Scanlen) versucht eine Panikattacke zu unterdrücken. Unbemerkt von den anderen Schülern, die sich am Bahngleis tummeln, atmet sie tief ein und aus. Die Routine, mit der Milla gegen die Angst ankämpft, ist unverkennbar. Dennoch will sie nicht auffallen. Da prallt Moses (Toby Wallace) mit ihr zusammen. Der Zusammenstoß beendet die Routine. Und auch die Panikattacke. Während die anderen Schüler in den Zug einsteigen, trifft Milla Moses. Moses ist 23, Milla 16 Jahre alt. Moses ist drogenabhängig, Milla hat Krebs. Moses mag Milla. Milla liebt Moses.
Ein Cocktail aus Xanax und Xolof
Es ist nur einer von vielen Zusammenstößen, die fortan wie ein heilsamer und zugleich schmerzhafter Kontrollverlust in Millas zumeist von ihrer Krankheit bestimmtes Leben treten. Nicht, dass sonst irgendetwas in geregelten Bahnen verliefe: Ihre Mutter Anna (Essie Davis) hat ihre Karriere als Musikerin weitgehend an den Nagel gehängt. Stattdessen wirft sie so regelmäßig so viele Beruhigungsmittel ein, dass sie beim ersten Abendessen mit Moses derart weggetreten ist, dass der vermeintliche Junkie neben ihr geradezu nüchtern wirkt. Den Cocktail aus Xanax und Xolof verschreibt ihr Millas Vater Henry (Ben Mendelsohn). Der Psychiater hat angesichts der tödlichen Krankheit seiner Tochter ebenfalls längst die Fassung verloren, bewahrt aber zumindest die Fassade, mit aller Kraft und gelegentlich einer Dosis Morphium.
Millas Krankheit gibt eine grausame Geradlinigkeit vor. Der Versuch, dieser Linearität und der drohenden Vision von Millas Tod zu entfliehen, bildet das Zentrum von „Milla Meets Moses“. Henry treibt es bei der Sehnsucht nach einem Leben ohne Schmerz in die Arme der hochschwangeren Nachbarin, die er jeden Morgen rauchend vor ihrer Einfahrt trifft und seinen Namen rufen hört, der auch der Name ihres Hundes ist. Die profanen morgendlichen Begegnungen hinterlassen einen so tiefen Eindruck, dass Henry sogar eine weinende Patientin auf seiner Therapiecouch zurücklässt, um für die Nachbarin eine Glühbirne zu wechseln.
Ausbruch aus den klassischen Phasen
Es ist eine der vielen seltsamen Gefühlsverirrungen in „Milla Meets Moses“. Das Spielfilmdebüt von Shannon Murphy, die ihr eigenes Theaterstück adaptiert, unterteilt Verirrung und Gefühle in eine Reihe von scheinbar wahllos gestalteten Kapiteln. Mal nach Ereignissen, mal nach Symptomen, Gedanken oder einfach nur „Liebe“ benannt, versuchen diese Kapitel einen Ausbruch aus den klassischen Phasen des Verlaufs und der Behandlung einer tödlichen Krankheit. Einmal hebt ein Song Milla aus dem häuslichen Alltag heraus. Einmal bringt die Schule diesen Alltag zurück und damit die Erinnerung an die Krankheit und das mit ihr verbundene Fremdsein. Die sich darauf anschließende Suche nach Geborgenheit und Schutz bildet ein weiteres Kapitel, das Milla in den Armen ihrer Mutter zeigt. So setzt der Film zwar letztlich die gleichen dramaturgischen Wegpunkte, die man aus anderen Schicksals- oder Sterbedramen kennt, zerteilt die Linearität aber in ein ständiges Tauziehen zwischen Verdrängung, Fatalismus und Alltag, das sich in den gänzlich unterschiedlichen Kapiteln gegenübersteht.
Die Krankheit ist hier kein Gesprächsthema, sondern eine Lebensaufgabe. Dazu gesellen sich die klassischen Adoleszenzkonflikte und mit Moses ein Mann, der so sehr eine Stütze ist, wie er gestützt werden muss. Viele der gemeinsamen Treffen zwischen Milla und Moses, seien es Clubnächte, die im Krankenhaus enden, oder gemeinsame Nachmittage im Garten des Familienhauses, werden im Laufe des Films von einem „was nicht sein darf“ zu einem „was sein muss“. Die Krankheit wird vergessen, die Albernheit und Schönheit der Momente verdrängt für eine kurze Zeit alles andere. Dann kehrt die Routine zurück: Schulalltag, Tabletteneinnahme, das eigene, haarlose Spiegelbild.
Ein Foto soll das Unmögliche leisten
Der anfangs ganz auf Eliza Scanlen zugeschnittene Film zeigt das Familienleben bald zunehmend aus Perspektive der Eltern. Ben Mendelsohn wird damit sukzessive zum emotionalen Anker des Films. Sein Griff zur Kamera, das endlose Fummeln an Blende und Fokus, wird zu einem Moment, der die ganze Trauer und Verzweiflung der Familie ausdrückt. Sein Foto soll das Unmögliche leisten, soll zur perfekten, lebensnahen Erinnerung werden, die Tochter auf ewig in einem glücklichen Moment festhalten, sie dort fesseln und nie wieder loslassen. Dass dieses Foto nicht gelingen kann, weiß auch Milla, die ihrem Vater in der schönsten Szene des Films die Kamera aus der Hand nimmt, ihn aus seiner Rolle befreit und zum Porträtierten macht. Für kurze Zeit bestimmt nicht die Krankheit, nicht Trauer oder Angst, sondern allein Milla über ihr Leben. Auf dem Foto umarmen sich die Eltern. Lächelnd und in Tränen.