„Ray’s a Laugh“ hieß die Serie, mit der der englische Fotograf Richard Billingham Ende der 1990er-Jahre bekannt wurde. Die Bilder waren hart, zärtlich, schmutzig, komisch und traurig zugleich.
„Ray’s a Laugh“, ursprünglich in Buchform veröffentlicht, dokumentierte die Eltern des Künstlers, Ray und Liz, in ihrer heruntergekommenen und mit billigem Nippes ausgestatteten Wohnung im verarmten Black Country in Birmingham. Ray, ein hagerer Alkoholiker mit gerötetem Gesicht im freien Fall, die übergewichtige Kettenraucherin Liz im geblümten Kleid und mit tätowierten Armen in ein Puzzle vertieft, eine weiß-schwarz gescheckte Katze im freien Flug über Ray, der auf einem Campingstuhl in Deckung geht. Gemusterte Tapeten, die sich von den Wänden lösen, alte Matratzen, Pappkartons, ein durchgesessenes Sofa, Blumengestecke.
Kindheit in der Thatcher-Ära
Billinghams Gespür und Sensibilität für Bildkompositionen und Lichtstimmungen, für das Zusammenspiel von Figuren, Raum und Dekor, gingen über den rohen, grotesken Sozialrealismus weit hinaus, der in den Bildern gleichfalls angelegt war. Sie konnten einen Betrachter unmöglich unberührt lassen.
Die Fotografien sind auch der visuelle Ausgangspunkt von Billinghams Spielfilmdebüt „Ray & Liz“. Es sind Erinnerungen an eine Kindheit in der Ära von Margaret Thatcher, in der das Ich weitgehend hinter dem Blick auf das Paar verschwindet. Billingham selbst bleibt eine Randfigur, die sich buchstäblich aus dem Bild zurückzieht – er ist in ein Buch vertieft, verlässt die Szene et cetera –, während sein jüngerer Bruder Jason im Laufe des Films mehr und mehr ins Zentrum rückt. Von einem erzählerischen Rahmen um Billinghams inzwischen allein lebenden Vater aus driftet die Erzählung sanft in zwei „Episoden“ in Kindheit und Jugend zurück.
Die Zeit ist wie ausgehebelt
Kindheitserinnerung versteht sich hier nicht als die Rekonstruktion eines Verlaufs – die übliche Aneinanderreihung von Stationen, die sich zu einer Entwicklung addieren –, sondern als mit sinnlichen Eindrücken angereichertes Stimmungsbild. Die Erinnerung wird dabei zu einem eigenen Stoff. In der filmischen „Gegenwart“ ist die Zeit wie ausgehebelt. Rays Welt ist zu einem kleinen, schäbigen Zimmer zusammengeschrumpft; ein Außen gibt es schon lange nicht mehr. Ray schläft, der Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, eine Fliege lässt sich auf einer nackten Glühbirne nieder, ein Nachbar kommt vorbei und bringt selbstgepanschten Fusel in Plastikflaschen, Ray füllt sein Glas bis an den Rand, er trinkt es in kräftigen Zügen.
Billingham beobachtet diese redundanten Nicht-Ereignisse abseits einer Milieustudie; sein Interesse gilt der Zeitlichkeit, den kleinen Gesten und Texturen. Der Film ist auf 16mm im quadratisch wirkenden Akademieformat gedreht (4:3). Jedes Bild ist sorgsam kadriert, die Farben sind satt, was ein auffälliger Kontrast zu den kränkelnden Tönen ist, mit denen die filmische Darstellung von sozialem Elend oft einhergeht.
„Thank you, love!“
Die beiden Rückblenden liegen zeitlich einige Jahre auseinander. In der ersten leben Ray und Liz mit Richard, Jason, Hund, Katze, Hamster und Kanarienvogel in einer Wohnung in einem ärmlichen Backsteinhaus. Sie sind sich genug, existieren in ihrer eigenen Sphäre; die Kinder beachten sie kaum. Ray und Liz arbeiten nicht, ein Umstand, den der Film thematisch (Arbeitslosigkeit) nicht konturiert. An die Stelle der im Sozialrealismus üblichen szenischen Ausformulierung von Kausalbezügen – verkürzt gesagt: aus wirtschaftlicher Krise folgt Arbeitslosigkeit folgt Verwahrlosung – treten die rituellen Handlungen von Ray und Liz: ihr pausenloses Rauchen, seine Teekoch- und Einschenkgewohnheiten, ihr liebevolles „Thank you, love“, wenn er ihr das Glas fürsorglich auf den Tisch stellt.
Immer wieder richtet sich die Kamera auch auf die zahllosen Blumengestecke, die Kitschfiguren und die an den schrabbeligen Wänden hängenden Bilder: Bibel- und Landschaftsszenen, ein Frauenporträt, ein Tigerposter, das Gemälde einer Dogge. Der Film aktiviert ihre Blicke – es ist, als sähen all die Augenpaare den Billinghams zu.
Im Zentrum der ersten „Episode“ steht ein durch Alkoholkonsum entgleister Nachmittag, an dem Rays Bruder den kleinen Jason hüten soll. In der zweiten „Episode“ leben die Billinghams in einer Sozialbausiedlung; die Verwahrlosung ist weiter vorangeschritten. Ray und Liz schlafen tagsüber, in den Schubladen stapeln sich Berge ungeöffneter Post, der Strom wird abgeschaltet, zu rauchen gibt es nur noch auf der Straße aufgesammelte Zigarettenstummel.
Nacktschnecken unter dem Bett
Jason, zu einem pummeligen Jungen herangewachsen, ist weitgehend sich selbst überlassen. Ein nahes Verhältnis hat er allein zu den Tieren. Unter seinem Bett bewahrt er eine Sammlung von Nacktschnecken auf; während der Schulstunden streift er durch den Zoo. Einmal sieht er im Fernsehen eine Tierdokumentation und streicht mit der Hand behutsam über den Bildschirm, der gerade von einem Raubkatzenbaby eingenommen wird. Als Jason für drei Tage verschwindet, fällt das den Eltern nicht einmal auf.
Billingham spart mit seinem überformten, durchkomponierten „kitchen-sink“-Realismus die Vernachlässigung nicht aus, auch nicht Lethargie, Stumpf- und Grobheiten. Sein Film ist dennoch frei von Vorwurf und Anklage – der Blick auf die Eltern ist bei allen Ambivalenzen ein liebevoller, bedingungslos empathischer Blick. Jedes Detail wird von ihm mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht, sei es ein böser Kinderstreich oder eine mütterliche Träne, die um den von der Fürsorge abgeholten Sohn vergossen wird (vielleicht auch wegen dem Verlust des Kindergelds), oder ein paar labbrige, mit Kraut belegte Toastbrotscheiben, die über die Einsamkeit hinwegtrösten.
Seiner Kindheit, um die ihn niemand beneidet, trotzt Billingham eine ramponierte Schönheit ab. „Ray & Liz“ ist ein manchmal schmerzhafter Film. Doch seine Geste ist eine immer zugewandte Berührung.