Dokumentarfilm | Deutschland/Litauen 2018 | 94 Minuten

Regie: Sergei Loznitsa

Distanziert-nüchterne Beobachtungen rund um die Feier der russischen Diaspora am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin am 9. Mai, dem Siegestag der Roten Armee über Nazi-Deutschland. Vom frühen Morgen an dokumentiert die Kamera in statisch-strengen Einstellungen das Geschehen auf dem Gelände, mit dem mehr der sowjetischen Mythologie und dem heutigen Russland als der Toten des Weltkriegs gehuldigt wird. Der Film nutzt vor allem auch die raffiniert montierte Tonebene, um die vielfachen Verschränkungen von Geschichtsverklärung, Geltungsbedürfnis und erinnerungspolitischem Spektakel herauszuarbeiten. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DEN' POBEDY
Produktionsland
Deutschland/Litauen
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Imperativ Film/Taura
Regie
Sergei Loznitsa
Buch
Sergei Loznitsa
Kamera
Jesse Mazuch · Sergei Loznitsa · Diego García
Schnitt
Danielius Kokanauskis
Länge
94 Minuten
Kinostart
07.11.2019
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Distanziert-nüchterne Beobachtungen rund um die Feier am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin am 9. Mai, bei dem die russische Diaspora weniger den Sieg über Nazi-Deutschland als vielmehr das arg geklitterte Geltungsbedürfnis des neuen Russlands feiert.

Diskussion

Bei der Potsdamer Konferenz 1945 besiegelten die West-Alliierten gemeinsam mit Stalin die europäische Nachkriegsordnung. Ersonnen wurde sie allerdings schon 1939 in den geheimen Zusatzprotokollen des Hitler-Stalin-Pakts. Die darin beschlossene Umgestaltung Osteuropas schlug der Sowjetunion weitreichende Gebiete zu. Überall, wohin die Rote Armee dann vordrang, wurden pompöse Kriegerdenkmäler errichtet, als Landmarken einer expansionistischen Interessensphären-Politik, deren Wiederbelebung aktuell im Kaukasus, auf der Krim und in der Ostukraine zu besichtigen ist.

Als die baltischen Staaten und Polen die geerbten Sowjetdenkmäler als verhasste Symbole der Fremdherrschaft abbauten, quittierte Moskau das mit Empörung und Drohungen. Der mediale „Denkmalstreit“ folgt dabei dem Muster eines „Heiligen Sieges“ und eines ungebrochenen Heldenkults, der seit den Sowjetzeiten mit Militärparaden und Volksfesten zelebriert wird und von Wladimir Putin als legitimierende Geschichtsfolklore instrumentalisiert wird.

Vom Gedenken zur Machtdemonstration

In seinen Filmen hat der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa sich wiederholt mit der Verrohung der postkommunistischen Gesellschaft und mit der sowjetischen Geschichte beschäftigt. In dem Spielfilm „Donbass“ (2018) räumte er mit den „Fake News“ vom „Bürgerkrieg“ in der Ostukraine auf, der de facto ein „russischer Krieg“ ist; „Maidan“ (2014) dokumentierte das Geschehen auf dem zentralen Platz in Kiew während der Proteste gegen den damaligen Präsidenten Janukowitsch.

In dem Dokumentarfilm „Victory Day“ beobachtet Loznitsa distanziert und nüchtern die Siegesfeiern am 9. Mai beim sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin, das zur Kulisse einer riesigen Menschenansammlung wird. 70 Jahre nach dem Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland begleitet die Kamera vom frühen Morgen an in langen, statisch-strengen Einstellungen und ohne Off-Kommentar das Geschehen: den Einzug von Besuchergruppen mit Blumen und Stalin-Porträts, später folkloristische Prozessionen von Frauen in Trachten und mit patriotischen Kriegsgesängen; Männer in sowjetischen Uniformen, die bei Wodka „Hurra“ skandieren, nationalistische Ansprachen halten und Selfies verschicken; gespenstisch anmutende Exerzitien von Kindern, die Schritte für eine Militärparade einüben.

Kränze werden abgelegt, Veteranen-Fotos mitgeführt und Picknicks abgehalten; es wird den ganzen Tag ausgelassen gefeiert und getanzt. Ein buntes Durcheinander, mit präzisem ethnografischem Blick eingefangen, der alle Ebenen gleich scharf ausleuchtet. Das Geschehen vor der Kamera lenkt die Aufmerksamkeit. Der Zuschauer bleibt mittendrin, ohne dass ihm das Einordnen und Verstehen der Bilder leichter gemacht würden.

Eine assoziative Toncollage

Bei aller formalen Neutralität deutet Loznitsa dennoch seine eigene Haltung an, indem er die impressionistischen Momentaufnahmen der Feier mit Close-ups und Detailaufnahmen von Relieffiguren kontrastiert, die die Kamera an den 16 imposanten Marmorsarkophagen des zentralen Monuments immer wieder langsam abtastet. Diese Kollisionsmontage lässt das Volksfest und das Pathos des Gedenkortes so ineinandergreifen, dass die Trauer vieler Versammelter hier mehr dem Verlust der sowjetischen Identität denn den gefallenen Soldaten gilt.

Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch assoziative Toncollagen, die auf ähnliche Weise mit ergatterten Dialogfetzen und Liedtexten verfahren, wenn etwa eine Zeile eines Popsongs, „... Geboren war ich in der Sowjetunion. Ich wurde in der UdSSR gemacht ...“, die nostalgische Rückwärtsgewandtheit der Akteure als unhinterfragte Überhöhung der Sowjetunion entschlüsselt.

Im Finale folgt dann der martialische Auftritt des ultranationalistischen Rockerclubs „Nachtwölfe“ aus Moskau mit sowjetischen, russischen und „Donezker Republik“-Fahnen im Hintergrund, deren usurpatorischer Wahlspruch „Wo wir sind, ist Russland“ schlagartig noch eine andere, aktuelle Dimension des kollektiven Erinnerungsrituals offenbart.

Mit dem Sankt-Georg-Band am Revers

Die „Nachtwölfe“ haben sich nicht nur auf dem Maidan, im Ostukraine-Konflikt und bei der Krim-Annexion als Aktivisten der russischen Expansionspolitik hervorgetan, sondern im Jahr 2015 auch eine medienwirksame Fahrt nach Berlin-Treptow zum „Tag des Sieges“ unternommen. Bei ihrer Demonstration am sowjetischen Ehrenmal in Berlin tragen sie das Sankt-Georg-Band, was zur Zarenzeit eine militärische Auszeichnung für Tapferkeit darstellte, seit dem Ostukraine-Krieg aber ein zentrales Symbol der russischen Gesinnung ist.

In einer Atmosphäre, in der sich Geschichtsverklärung mit Geltungsbedürfnis mischt, wird bei dieser Feier nicht nur eine identitätsstiftende Kontinuität zwischen dem Zarenreich, der Großmacht Sowjetunion und dem heutigen Russland als ihrem Nachfolgestaat beschworen. Der skurrile Gedenktag dient auch der individuellen Selbstaufwertung der im besiegten Deutschland gestrandeten Auswanderer über das imperiale Geschichtsnarrativ der alten Sowjetunion und des neuen Russlands, das in militärischer Großmannssucht und Propaganda sein Heil sucht. Ein erinnerungspolitisch befeuertes Spektakel, in dem sich bisweilen mehr Gegenwart als Vergangenheit manifestiert.

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