Auf die Frage seines Vaters, warum er Drogen nehme, antwortet der junge Nic Sheff sehr vage: um den Alltag auszuhalten. Was in Nics Fall eigentlich heißt, dass es keinen handfesten Grund gibt – außer natürlich dem, dass Nic jung ist und sich noch zugesteht, vom Leben ein diffuses „Mehr“ zu verlangen, eine Intensität, die so oft fehlt. Der Junge hat gerade die High School mit Bravour hinter sich gebracht; er hat Freunde und eine liebevolle, materiell gut situierte Mittelstandsfamilie. Zwar musste er als Kind mit der Trennung seiner Eltern zurechtkommen, doch haben Vater und Mutter ihr Bestes getan, um dem Kind trotzdem Stabilität zu geben, und Nic hat zur neuen Partnerin seines Vaters und seinen Halbgeschwistern ein harmonisches Verhältnis. Er passt in keines der Klischeebilder, die über Drogensucht kursieren; von Perspektivlosigkeit und Vernachlässigung kann nicht die Rede sein. Trotzdem hält Nic das Leben ohne Drogen nicht aus. Auf den ersten Entzug folgt bald der erste Rückfall, und damit kommt eine Abwärtsspirale in Gang, die Nic, aber auch seine Familie und vor allem seinen Vater David in den kommenden Jahren an den Rand des Ertragbaren bringt.
Der Titel „Beautiful Boy“ bezieht sich auf den gleichnamigen Song, den John Lennon für seinen Sohn geschrieben und auf seinem 1980 erschienenen Album „Double Fantasy“ veröffentlicht hat – einen Song also, in dem es um die tiefe Liebe eines Vaters zu seinem Sohn geht. David Sheff hat ihn für seinen Erfahrungsbericht „Beautiful Boy. A Father’s Journey Through His Son’s Meth Addiction“ verwendet, auf dem Felix Van Groeningens Film beruht. Ins Drehbuch ist auch das ergänzende Buch von Nic Sheff, in dem dieser die Suchterfahrung aus seiner Perspektive schildert, eingeflossen; der Schwerpunkt liegt allerdings auf der von Steve Carell verkörperten Vaterfigur. Was dem Film hilft, eine Ambivalenz zu vermeiden, mit der viele Drogendramen kämpfen: Da der Film nicht versucht, Nics Rauscherfahrungen fühlbar zu machen, läuft er auch nicht Gefahr, sie verführerisch wirken zu lassen.
Der Film interessiert sich vor allem für die Zwischenstadien
Tatsächlich ist Van Groeningens Regie generell bemüht, das Thema mit einer gewissen Nüchternheit anzugehen: Sein Film interessiert sich weniger für die Höhe- und Tiefpunkte als dafür, dem Publikum ein Gefühl für das zu vermitteln, was dazwischen liegt: die allmähliche psychische und physische Veränderung von Nic durch die Sucht, die zähe Weigerung Davids, den Jungen aufzugeben, und das Aufgeriebenwerden zwischen liebevoller Sorge, immer wieder enttäuschter Hoffnung und wachsender Frustration und auch Wut, wenn Nic ein ums andere Mal nach einem Entzug wieder rückfällig wird und nur noch tiefer in die Sucht rutscht. Ähnlich wie in seinem Film „The Broken Circle“ arbeitet Van Groeningen dabei mit einer nicht-linearen Erzählstruktur und springt zwischen verschiedenen Zeitebenen. Was zwar die Handlung fragmentarisiert, aber paradoxerweise dazu beiträgt, die Figuren immer in ihrer Ganzheit im Blick zu haben, mit ihrem Ist-Zustand und ihren Erinnerungen: Man versteht ihr Elend und das Leid des Vaters an der sich zwischen ihm und seinem Sohn auftuenden Kluft umso besser, wenn man immer wieder sieht, wie nah sie sich einst waren.
Anders als Filme wie „Trainspotting“, „Requiem for a Dream“ oder „Candy“ ist „Beautiful Boy“ darum bemüht, das Thema Drogensucht aus dem Kontext sozial prekärer Existenzen herauszuhalten: Der Film bleibt fest verortet im gutbürgerlichen Umfeld der Sheffs; wie genau Nics Abstürze aussehen, was er tut, um sich seine Drogen zu beschaffen, blendet er aus – wohl um das Thema bewusst nicht zu „kriminalisieren“, sondern zu zeigen, dass es auch die „Mitte der Gesellschaft“ betrifft. In einer Szene bricht der Junge zusammen mit einer ebenfalls drogenabhängigen Freundin im Haus der Sheffs ein, um alles an Wertsachen mitzunehmen, was die beiden schleppen können – wobei es allerdings weniger um die Beschaffungskriminalität geht als um die Grenzüberschreitung, den krassen Vertrauensbruch, und Timothée Chalamet schafft es eindringlich, dies fühlbar zu machen: die Abstumpfung, in die Nic mittlerweile durch die Sucht abgeglitten ist und die doch noch nicht tief genug ist, um die Scham und den Selbstekel ganz auszumerzen.
Eine Lösung ist nicht in Sicht
Eingängige Geschichten bauen zunächst einen Konflikt, ein Problem, eine Aufgabe auf, die die Figuren dann lösen müssen. „Beautiful Boy“ erzählt davon, dass Suchterkrankungen leider nicht so funktionieren. Zwar versucht David lange hartnäckig, genau das zu tun – das „Suchtproblem“ Nics zu lösen –, scheitert aber ein ums andere Mal, bis er schließlich in einer eindrucksvollen Szene verstehen muss, das nur eins eine endgültige Lösung wäre: der Tod. Ansonsten gibt es genauso wenig Lösungen, wie es zwingende „Warums“ der Sucht gibt: Der Kampf gegen den Rückfall bleibt ein ständiger Prozess. Die Stärke von Van Groeningens Film ist es, die Erosionskräfte dieses Prozesses auf die Beziehungen in einer Familie mit stiller Unerbittlichkeit fühlbar zu machen.