Biopic | Chile/Frankreich/Niederlande/Deutschland 2017 | 90 Minuten
Regie: Niles Atallah
Filmdaten
- Originaltitel
- REY
- Produktionsland
- Chile/Frankreich/Niederlande/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2017
- Produktionsfirma
- Unafilm/Mômerade/Diluvio/Circe Films
- Regie
- Niles Atallah
- Buch
- Niles Atallah
- Kamera
- Benjamín Echazarreta
- Musik
- Sebastian Jatz
- Schnitt
- Benjamin Mirguet
- Darsteller
- Rodrigo Lisboa (Orélie-Antoine de Tounens) · Claudio Riveros (Juan Bautista Rosales)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- 03.01.2019
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Biopic | Drama | Historienfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Experimentelles Historiendrama um den französischen Abenteurer Orélie-Antoine de Tounens (1825-1878), der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Chile ein eigenes Königreich gründete.
Experimentelles Historiendrama um den französischen Abenteurer Orélie Antoine de Tounens (1825-1878), der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Chile ein eigenes Königreich gründete.
"Rey“ ist die Geschichte zweier Eroberungsfeldzüge. Vordergründig fiktionalisiert das Historiendrama des US-amerikanischen Video- und Installationskünstlers Niles Atallah die weitgehend vergessene Geschichte von Orélie Antoine de Tounens (1825-1878). Im Jahr 1858 zog es den französischen Anwalt und Abenteurer nach Chile. Er träumte von einer Kolonie, von einem neuen Frankreich und einem neuen Menschen. 1860 ließ er sich vom Volk der Mapuche zum König von Patagonien und Araukanien krönen. Zumindest behauptete Tournens das.
Parallel zur Geschichte seiner gescheiterten Staatsgründung auf dem Gebiet des heutigen Chile versucht der Film, die eigentlich unerreichbare Vergangenheit nutzbar zu machen: Die Zeit vor der Kolonialisierung der Welt durch die Kamera. Fünf Kapitel ordnen die nichtlineare Erzählung. Der Regisseur orientiert sich an den historischen Ereignissen, um seiner experimentellen Ästhetik eine Stoßrichtung zu geben.
„Rey“ beginnt mit dem Knistern und Rauschen einer Tonspur und dem Rattern eines Projektors. Der Film verweist damit auf die eigene Materialität, inszeniert das Objektsein. Diese Geräusche durchziehen das Drama, aber sie nehmen immer wieder neue Formen an: das Rauschen eines Flusses, raschelnde Blätter in den Bäumen, das Pfeifen des Windes. Technische Prozesse werden mit natürlichen Vorgängen verknüpft, sie sollen vielleicht sogar selbst als etwas Natürliches gesehen werden.
Die Kamera als Werkzeug der Erinnerung
Die Kamera begreift Niles Atallah als Werkzeug der Erinnerung. Vergangenes wird festgehalten, aber subjektiv eingefärbt. Vor der Veröffentlichung hat der Regisseur den Film ein- und wieder ausgegraben. Ein künstlicher Alterungsprozess. Texteinblendungen zu Beginn informieren über die „verfallenen Erinnerungen“ der Hauptfigur. Das erodierte Material, in das sich die Wirkung von Natur und Zeit in Form von Kratzern und Flackern eingeschrieben hat, übernimmt so den unbeständigen Blick des falschen Königs. Die Bilder sind von permanenten Verschiebungen, Verzerrungen und Verwandlungen geprägt. Der Regisseur verwendet Formate von 8- und 16mm-Schmalfilm bis hin zu 35mm- und Digitalbildern, Archivaufnahmen, sowie verschiedene Kameras und Seitenverhältnisse. Fast eine Geschichte der Fotografie im Kleinen.
Durch Doppelbelichtung verschmelzen die Einzelteile dieser Collage. Es geht offensichtlich nicht darum, verschiedene Perspektiven auf die Ereignisse abzubilden. Es entsteht eher der Eindruck, als ob gefundene Aufnahmen notdürftig zu einem Zeitdokument zusammengeflickt worden wären. Eine splitternde Perspektive täuscht über die Gegenwart eines allesformenden Autors hinweg. Einige Sequenzen werden mehrfach wiederholt, oft in leicht abgewandelter Form. Erinnerungen sind dabei keine Abwandlung des ursprünglichen Ereignisses, sondern Variationen der vorhergehenden Erinnerung, ein permanenter persönlicher und historischer Revisionismus. Geschichtsschreibung wird als Sammlung vermeintlich vielfältiger Quellen gezeigt, die doch alle demselben Zweck dienen: der Rechtfertigung, Verklärung, Romantisierung.
Ein Gesicht vor dem Gesicht
Ein Gerichtsverfahren wird zum Ausgangspunkt zahlreicher Rückblenden. 1862 wird de Tounens (gespielt von Rodrigo Lisboa) von seinem landeskundigen Diener Juan Bautista Rosales (Claudio Riveros) an die chilenischen Behörden verraten. Der Abenteurer wird beschuldigt, ein französischer Spion zu sein. In diesen Szenen tragen alle Figuren Pappmaché-Masken ihres eigenen Gesichts. Im Hintergrund sind wieder die Geräusche eines Projektors zu hören; auf diese Weise wirkt jede Zeugenaussage wie von den Anklägern an die Wand projiziert.
Oft klingt das Voiceover des Dieners wie ein Interview aus einem Dokumentarfilm. Seine Maske verwandelt sich durch einen Rückblick in sein tatsächliches Gesicht, als würde der Regisseur der Fiktion durch das ursprüngliche Quellenmaterial Glaubwürdigkeit verleihen. Doch auch der „echte“ Rosales ist ja nur ein Schauspieler.
Der Schnitt zwischen visuell klarer erkennbarer Maske und dem durch das Material verzerrten Gesicht kann als ein zentrales Motiv verstanden werden: Die unklare Wahrheit der Vergangenheit weicht der klaren Unwahrheit der Gegenwart. Ein weiterer Prozess des Verfalls. „Rey“ ist ein explizit und implizit politischer Film. So verweist eine finale Texttafel auf das bis heute andauernde Leiden der indigenen Bevölkerung in Chile. Auch mit dem europäischen Kolonialismus geht der Film ins Gericht: Sind die Grenzen von Tounens’ behauptetem Königreich wirklich lächerlicher als die der anderen Eroberer? Unterscheidet sich sein Wahnsinn von ihrem?
Der Abenteurer wirkt selten so offenkundig aggressiv, wie man es etwa von vergleichbaren Figuren aus dem Werk von Werner Herzog oder Ciro Guerra kennt. Eher trägt er die Züge eines romantischen Helden, der in pittoreske Landschaften geworfen wird, die seine Sehnsüchte nachvollziehbar machen. In schwachen Momenten wirken seine Donquichotterien fast anrührend. Stolz durchquert er mit erhobener Flagge den Río Bío Bío. Die triumphale Eroberer-Geste gelingt aber nur halb, kein Wind lässt das Banner wehen; so hängt es tragikomisch ins Wasser. In der nächsten Szene muss er es zum Trocknen aufhängen. Visionen eines „neuen Frankreichs“ werden teilweise durch alte Stummfilme dargestellt. Naive Fantasien, wie von einem Drehbuchautor ausgedacht. Doch selbst diese simplen Träume enden in der Katastrophe. Schlimmer noch: in der „Apokalypse“, wie es der Epilog des Films betitelt wird. Bilder auf leicht brennbarem Nitrofilm zeigen Kanonenfeuer und Krieg – das Kolonialzeitalter und seine Folgen.
Eine nagelneue Ruine
In der Bebilderung des zerstörerischen Wahnsinns ist „Rey“ nicht immer stilsicher. Endlose prismatische Spiegelungen, vom Filmstreifen gekratzte Gesichtszüge, Stan-Brakhage-artige Wellen von Formen und Bewegungen wirken seltsam vertraut. Der ist nicht wirklich unkonventionell, sondern eher an neuen Konventionen orientiert. Einige Effekte kennt man aus Musikvideos oder aus den Optionsmenüs von Videobearbeitungssoftware. Doch auch wenn der Film keine einzigartige Erfahrung bereithält, bietet er doch eine außergewöhnliche Erfahrung. Niles Atallah errichtet eine nagelneue Ruine, ein wundervoll lebendiges Museum. Er unterläuft die Klischees des Kostüm- und Historienfilms, indem er filmt, als wäre er wirklich in die Vergangenheit gereist.