Der Handlungsspielraum ist klar abgesteckt. Die sechs Männer und Frauen in dem kleinen Büro der Notrufzentrale in Kopenhagen sollen Anrufe entgegennehmen, Personalien erfassen und den Ort des Notfalls oder der Straftat an die Kollegen vom Außendienst weitergeben. In aller Kürze macht der schwedische Regisseur Gustav Möller den Mikrokosmos seines Spielfilmdebüts erfahrbar: Mehr als Headset und Computer braucht es nicht an technischer Ausrüstung, und auch die persönliche Beteiligung kann minimal bleiben. Gerade so viel, um die aufgeregten oder verängstigten Menschen am Telefon zu beruhigen und um an die notwendigen Informationen zu gelangen. Schnelligkeit und Konzentration zählen hier, wo der Kontakt mit den Verbrechen am flüchtigsten und der weiterleitende Anruf das letzte sein soll, was die Polizisten von den Fällen mitbekommen. Der Telefondienst kann dadurch etwas Erleichterndes haben, wie der zeitweilig hier arbeitende Asger Holm registriert: „Manche tun es freiwillig.“
Holm gehört erkennbar nicht zu dieser Sorte. Dem Polizist in den Vierzigern fehlt die Routine, aber auch die Bereitschaft, eine reine Vermittlerposition in der Notrufzentrale zu akzeptieren. Er reagiert schnell gereizt, reißt sich öfters wütend das Headset herunter. Einem Mann, der im Rotlichtmilieu beraubt wurde, teilt er mit, dass dies seine eigene Schuld sei; der alarmierten Polizeistreife empfiehlt er: „Lasst ihn eine Weile schmoren!“
Eine demonstrative moralische Überlegenheit zählt zu Holms markanten Eigenschaften, der aus disziplinarischen Gründen zum Telefondienst versetzt wurde. Wenige Minuten trennen ihn vom Ende dieser Schicht, als er noch einen Anruf entgegennimmt. Eine ängstliche junge Frau namens Iben meldet sich. Ihre Worte lassen den Polizisten rasch Schlüsse ziehen. Nach vorsichtigen Rückfragen und mit Hilfe der Computerdaten hat er sich ein Bild der Lage gemacht: ein fahrender Wagen irgendwo auf der Autobahn, die Frau offenbar entführt, der Fahrer ihr vorbestrafter Ex-Mann Michael, der nichts von dem Anruf bei der Polizei ahnt.
Einmal noch geht Holm nach Vorschrift vor, informiert die Kollegen und wartet auf eine Rückmeldung. Doch das gestoppte Auto ist das falsche. Von diesem Moment an zieht „The Guilty“ die Hauptfigur und mit ihr den Zuschauer immer tiefer in ein Netz aus eigenmächtigen Entscheidungen und ihren teils dramatischen Folgen. Auch das direkte Umfeld des Polizisten lässt die Kamera immer verschwommener werden; leinwandfüllend tritt dafür das angespannte Gesicht des schwedischen Darstellers Jakob Cedergren in den Vordergrund, beziehungsweise oft nur Ausschnitte davon: das Ohr mit dem blinkenden Headset, die kleinen Schweißtropfen auf Wangen und Stirn, die hin und her wandernden Augen. Cedergren ist fast der einzige sichtbare Schauspieler des Films, insbesondere ab dem Zeitpunkt, als der Polizist sich in einen Nebenraum zurückzieht, um ungestört zu sein; alle anderen Hauptfiguren sind nur über ihre Telefonstimmen präsent.
Dem außerhalb Skandinaviens bislang hauptsächlich mit Fernsehrollen bekannten Cedergren gelingt es fulminant, die wechselnden Gefühlslagen eines Charakters zu verdeutlichen, der sich gegen die Grenzen seiner eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten stemmt, obwohl diese ihm zweifelsfrei vor Augen liegen. Machtlos zu sein, ist die schlimmste Vorstellung für den selbstbewussten, auch selbstgerechten Polizisten. Sogar von seinem Telefonplatz aus will er den einmal angefassten Fall um jeden Preis weiterverfolgen.
Visuell wird diese zusehends manische Isolation durch den Raumwechsel markiert. Schon in das anfängliche Zimmer ist kein Außenlicht gefallen, doch jetzt ist der Rückzugsraum ein wahres Kabuff, in dem Holm fast in völliger Dunkelheit agiert. Lediglich das matte Strahlen des Computer-Bildschirms verbreitet noch etwas Helligkeit sowie eine große rote Leuchte, deren Erstrahlen einen eingehenden Anruf anzeigt und nach den immer wieder auftretenden Wartezeiten wie ein aufflammender Hoffnungsschimmer wirkt. Öfter aber ist es das Signal für eine neue schlechte Entwicklung: Holms vergebliche Versuche, Iben zurückzurufen, führen zu einem Anruf bei ihr zuhause, wo sich deren sechsjährige Tochter meldet; als er eine Streife zu dem alleingelassenen Kind schickt, entdeckt diese, dass sich in der Wohnung ein grausames Verbrechen ereignet haben muss. Für Holm wird das Ziel des Wagens nun zur primären Aufgabe, für deren Lösung er seinen Partner einspannt; zwischendurch wählt er immer wieder die Handy-Nummern von Iben und ihrem Ex-Mann; doch sogar wenn jemand rangeht, kommt er damit nur wenig weiter.
Anders als in Steven Knights ähnlich eindrucksvollem Ein-Mann-ein-Telefon-Thriller „No Turning Back“, bei dem die Gleichzeitigkeit von Aktionismus und Autofahrt den Rhythmus bestimmten, entwickelt „The Guilty“ die Spannung seines Echtzeit-Szenarios gerade aus den geringen Bewegungsmöglichkeiten auf engstem Raum heraus. Möllers Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt und Hauptdarsteller schaffen es, aus den Vorgaben ein Maximum an Spannung herauszuholen. Dabei rückt das durch den Filmtitel vorgegebene Schuld-Thema zunehmend ins Zentrum und wandelt sich über die unerwarteten Wendungen von der scheinbaren Anfangsgewissheit zu einer offenen Frage, auf die es mehrere oder auch keine Antwort geben kann.
Asger Holm jedenfalls geht die ursprüngliche Selbstgerechtigkeit verloren, je mehr sich sein Instinkt als fehlerhaft erweist und er seine Fehler auch vor sich selbst nicht mehr leugnen kann. Über die souverän gehandhabten Thriller-Elemente hinaus ist daher das packendste Drama des Films die seelische Höllenfahrt des Protagonisten. Unausweichlich steuert Holm auf einen von ihm selbst gegrabenen Abgrund zu, mit dem Zuschauer stets an seiner Seite.