Wackersdorf

Romain Antony | 04.09.2022

Vorerst nochmal die Chronologie der Ereignisse: 1981 beginnen die Planungen, es bildet sich sofort eine Bürgerinitiative 1982 erste Demo 1984 Sonntagsspaziergänge zur Baustelle 2/1985 die Entscheidung fällt für Wackersdorf 12/1985 Rodungen Hüttendörfer werden errichtet, die sofort wieder geräumt werden 1/1986 über 100 Demonstranten werden festgenommen Ostern 1986 100.000 Demonstranten, CS-Gas/Tränengas-Einsatz aus Hubschraubern auf alle Weiß du noch was am Samstag 26.04.1986 geschah? Wo warst du da? So wie du noch weißt, wie du von Kennedys Ermordung erfahren hast oder wo du warst bei der Mondlandung oder beim Attentat von 9/11! 26.04.1986 Tschernobyl 881.000 Einwände vor Gericht gegen den Bau der WAA 10/88 Tod von Franz-Josef Strauß Das Ende von Wackersdorf kommt aus der Kernindustrie. Vorstandsvorsitzender Rudolf von Benningsen-Foerder: „Zu teuer, zu langwierig“. Wackersdorf, ein Film über die jüngere Geschichte, über demokratische Strukturen in der BRD und über Machenschaften mit Potenzial sie langfristig zu zerstören. Wackersdorf, ein Projekt, welches die Hoffnung nährt, dass nach der Ebbe des Braunkohlenabbaus in der strukturarmen Gegend die 20% Arbeitslosigkeit ihr Ende finden möge. Filmisch gut gemacht: Die Gegenüberstellung kleinbürgerlicher Interieurs mit ihrer einfachen Dekoration im Vergleich mit dem Münchner Prunk; wortkarge Dialoge, der Einsatz von Musik, um entscheidende Veränderungen zu unterstützen, eine bemerkenswerte Kamerafahrt, die das rückwärts fahrende Auto filmt, ein detailgenaues Szenenbild mit dem Kolorit der 80er Jahre. Zur Erinnerung: Die Filmmusik bekam den deutschen Filmpreis für die beste Musik - meines Erachtens wären andere, weitere Prämierungen wichtig gewesen. 2019 bekam der Film den Bayerischen Filmsonderpreis, eine Ehrung ohne Geldsegen. Bei der Preisverleihung kam der damalige Protest-Landrat Hans Schuierer auf die Bühne und erklärt, dass das Geschehen in Wackersdorf ein Lehrbeispiel gewesen sei für etwas, was nie hätte passieren dürfen. Er meinte damit den Umgang mit der Protestbewegung. Fast alle applaudieren, nicht Söder. Einige Fragen wirft für mich dieser Film auf: Ist der oberste Kommunalbeamte des Landkreises, Landrat Hans Schuierer, ein Held? Ist er im Film nicht zu edel dargestellt, zu ungebrochen? Er spricht von Verantwortung für die Menschen. Das hört man oft von PolitikerInnen, seltener merkt man, dass danach gehandelt wird. Sicher kann man sich dessen nicht sein. Wir sind uns allerdings sehr sicher, dass es an Verantwortung für die - parteiübergreifende Tonart - „unseren Wohlstand generierende Wirtschaft“ nicht fehlt.. Wie kommt die Mischung aus Dokumentaraufnahmen und Fiktion an? Sind solche Spielfilme über historische Begebenheiten sinnvoll? Oder sollte man gleich einen Dokumentarfilm sehen? Ist das ein Heimatfilm? oder ein Politthriller? Steht der Film (2018) in einer Reihe mit anderen bemerkenswerten dokumentarisch ausgerichteten Politfilmen zur BRD-Geschichte? Den filmischen Bezug zur DDR mal außen vor lassend erwähne ich: Reinhard Hauff: Stammheim / Uli Edel: Der Baader Meinhof Komplex / Christopher Roth; Baader / Margarethe von Trotta: Die bleierne Zeit / Lars Kraume: Der Staat gegen Fritz Bauer / Giulio Ricciarelli: Im Labyrinth des Schweigens / Christian Schwochow: Mitten in Deutschland.... Was war wohl ausschlaggebend für den Sinneswandel von Schuierer? Kam er zustande durch die drastische und unrechte Art der Machtdurchsetzung oder durch die abwegige Vorstellung bezüglich des geplanten zweihundert Meter hohen Schornsteins, um entstehende Schadstoffe besser zu verteilen, ein zynische Idee. Zynische Ideen sind leider Realität, wenn sie großen Profit ermöglichen. Werden wir angesichts der derzeitigen Krisensituation möglicherweise zugespitzte Zustände bekommen können zwischen Zivilgesellschaft und Staat? Wie kann es sein, dass im Einklang von Biertischvolkstümlichkeit mit Schützenfest und Brauchtum ein derart hartnäckiger Widerstand der Gesamtoberpfalz gegen die Staatsmacht entsteht? Wie reagiert die Staatsmacht auf Widerstand, unrechtmäßig, mafiös, Recht beugend? Sie stellt lukrative Posten in Aussicht, lädt zum Essen ein, verteilt Geschenke, verführt zu realitätsfernen Selbstüberhöhungen - an etwas ganz Großem teilhaben / eine schwierige, herausfordernde Aufgabe erfüllen - erzeugt Druck, droht. Es werden sogar Gesetze geändert, um den Widerstand des Landrats zu brechen (Gesetz zur Änderung des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) vom 23. Juli 1985). Es erlaubte Aufsichtsbehörden in „bestimmten Fällen“ (?!) die Landratsentscheidung zu ersetzen. Zitate aus dem Film: „Es geht hier um das Recht. Und das Recht wird entweder respektiert oder es wird missachtet. Da gibt es nix zu taktieren und da gibt es nix zu klären“. „Natur und Leben sind unser kostbarstes Gut. Wir dürfen es nicht der Profitgier und der Machtbesessenheit opfern.“ „Geld ist nix alles, aber ohne Geld ist alles nix“. „Tja, der Atomstaat braucht halt die totale Kontrolle. Da ist unsere junge Demokratie bald nimmer viel wert.“ Infos: Unter anderem das Zitat „Strauß eine Ein-Mann-Demokratur, eine CSU-Demokratur, die er von seinen zahlreichen besuchen in Südafrika, Chile, Militärdiktaturen und kommunistischen Staaten gelernt hat“ bringt Schuierer ein Disziplinarverfahren ein. 500 Tonnen Atommüll jährlich sollten in der WAA, der Wiederaufbereitungs-Anlage, aufbereitet werden. Der Name soll glauben machen, dass hier recycelt wird. Wordeuphemismen werden gerne verwendet, um negative Sachverhalte hinter attraktiven Bezeichnungen zu kaschieren. In der WAA sollte es um die Gewinnung von giftigem Plutonium und um die Lagerung von Atommüll gehen. Das Projekt hat 10 Milliarden Mark gekostet, alles für die Tonne! Der Staatssekretär im Innenministerium zur Wackersdorf-Zeit war übrigens Peter Gauweiler. Die Mutter der Schauspielerin Anna Maria Sturm, die Monika Gegenfurtner verkörperte, war Politikerin und WAA Aktivistin. Und last but not least anbei, falls es jemanden interessiert, das Rezept der Bayerischen Original-Weißwurst, die im Film auch eine Rolle spielt - keine tragende, nur eine kleine, so wie es sich für eine Wurst gehört: Kalb, Schwein, Speckwürfel, Nitrat und gekocht im Petersiliensud. Einer fehlte: Die eminente Rolle von Dietmar Zierer im Gemenge mit der Bayrischen Staatskanzlei fällt dramaturgisch im Film leider unter den Tisch. Dabei war er ebenfalls engagiert in den Auseinandersetzungen mit dem Regierungspräsidenten und hat sich im Widerstand gegen die WAA großen Verdienst erworben. Zu empfehlen sein Buch → Dietmar ZIERER: Radioaktiver Zerfall der Freiheit - WAA Wackersdorf. Lokal-Verlag, 1988; 318 S., ISBN 3-925603-06-9. cf. auch: www.filmekommentieren.wordpress.com