Drama | Frankreich/Deutschland/Litauen/Niederlande/Russland/Litauen/Ukraine 2017 | 143 Minuten

Regie: Sergei Loznitsa

Eine namenlose Frau macht sich auf den langen Weg in eine sibirische Gefängnisstadt, um nach dem Verbleib ihres inhaftierten Mannes zu fahnden. Stoisch erträgt sie den immer tiefer werdenden Sumpf verbaler und physischer Gewalt. Mit formaler Präzision und einem ausgefeilten Zusammenspiel von Bild und Ton, On und Off entwirft der ins Monströs-Parabelhafte ausgreifende Film ein düsteres, kafkaeskes Gesellschaftspanorama des gegenwärtigen Russlands. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KROTKAYA
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Litauen/Niederlande/Russland/Litauen/Ukraine
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Slot Machine/Arte France Cinéma/LOOKSFilm/Studio Uljana Kim/Wild at Art/Graniet Film/GP Cinema/Solar Media Ent.
Regie
Sergei Loznitsa
Buch
Sergei Loznitsa
Kamera
Oleg Mutu
Schnitt
Danielius Kokanauskis
Darsteller
Wasilina Makowtsewa (Die Sanfte) · Marina Kleschtschewa (Die Leidenschaftliche) · Liya Akhedzhakova (Menschenrechtsaktivistin) · Valeriu Andriuta (Blaugesicht) · Boris Kamorzin (Mann mit Gipsarm)
Länge
143 Minuten
Kinostart
03.05.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Düsteres, kafkaeskes Gesellschaftspanorama des gegenwärtigen Russlands von Sergei Loznitsa, das ins Monströs-Parabelhafte ausgreift.

Diskussion
Immer wieder ist von fragmentierten Körpern die Rede. Eine Hand wurde ausgegraben, eine Leiche zerstückelt; mit der eigenen Säge, weiß eine Frau zu berichten. Ein Mann erzählt nicht ohne Lust eine Geschichte aus dem Krieg, in der ein „sensibler“ Typ aus seiner Einheit für die Zerstörung von Biomasse zuständig gewesen sei. Arme, Beine, zerfetzte Körperteile – „ein fahrbares Krematorium gleich hinter der Front“. Eines Tages will er unter den Fleischstücken, die er gerade in den Ofen warf, die Hand seiner eigenen Freundin erkannt haben. Aufgestochen, auseinandergerissen und regelrecht ausgeweidet werden auch die Inhalte der Pakete, die die Angehörigen den Inhaftierten ins Gefängnis schicken. Hausschuhe, Seifenstücke, Zahnpasta, Brot und Konserven: Am Ende ist nicht mehr viel übrig davon. Von den lauernden Kräften der Gewalt und Zerstörung ist auch die namenlose schmale Frau bedroht, die der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa im Titel als „Die Sanfte“ ausweist. Wenn sie auf einer Busfahrt zu Beginn von einem weiblichen Fahrgast harsch zurechtgewiesen wird, weil sie angeblich ihr sperriges Paket auf deren Füße abgestellt habe, ist das nur der Auftakt zu einer Serie von verbalen und physischen Angriffen, die in dem albtraumhaften Schluss des Films einen schrecklichen Höhepunkt findet. Loznitsa erzählt eine Geschichte, die klein anfängt, um sich auf ihrem mit vielen Kafkaismen gepflasterten Weg immer mehr ins Monströse – und Parabelhafte – auszuweiten. Ein Paket, das die „Sanfte“ an ihren in Sibirien inhaftierten Mann geschickt hat, ist an das örtliche Postamt zurückgekommen. Als ihre Nachfragen nach dem Verbleib ihres Mannes zu keinem Ergebnis führen, begibt sich die Frau auf eine lange Reise ans andere Ende Russlands. Ihrem Ziel kommt sie dabei jedoch kaum näher. Sie wird herumgeschubst, betatscht, hier- und dorthin geschickt; Menschen, die ihr zu helfen vorgeben, erweisen sich als zwielichtige Gestalten oder als machtlose Verzweifelte. Die Demütigungen und Schikanen erträgt die Frau dabei stets mit stoischer Miene. Zu der Dostojewski-Novelle „Die Sanfte“, die unter anderem von Robert Bresson verfilmt wurde (fd 18 382), eine Adaption, die Loznitsa nach eigenen Worten inspiriert hat, steht der Film in einem ähnlich verqueren Verhältnis wie Loznitsas eigenwilliger Realismus zum Realismus des „herkömmlichen“ sozialrealistischen Kinos. Loznitsa ist ein Meister im Organisieren von Bildräumen und von Menschenmassen in Bildräumen. In seinen Dokumentarfilmen „Maidan“ (fd 43 316), „Austerlitz“ (fd 44 348) und jüngst „Victory Day“ (2018) nimmt er in langen, statischen Tableaus die unterschiedlichen Aggregatzustände von Massen in den Blick, ihre Dynamisierung, Zerstreuung oder ihr Stocken, nicht zuletzt auch ihre stumpfe Gleichförmigkeit. Auch in „Die Sanfte“, nach „Mein Glück“ (fd 40 286) und „Im Nebel“ (fd 41 368) der dritte Spielfilm des ukrainischen Regisseurs, bleibt die Kamera meist unbewegt. Totalen gibt es wenige, meist sind die Figuren dicht an dicht angeordnet; ihre schiere Masse – die Körper sind überwiegend breit und dickleibig, die Gesichter plump und unförmig – droht die schweigsame Frau mit den feinen Gesichtszügen zu zerquetschen. Nicht weniger gewaltig und buchstäblich raumgreifend sind die Reden der Menschen, die sich im Laufe des Films zu einem düsteren Gesellschaftspanorama des gegenwärtigen Russlands addieren. Wo immer die „Sanfte“ hinkommt, wird sie unentwegt mit Geschichten und Klagen zugequatscht: die Atomraketen, der Krieg, die Armut, die Willkür. Mitunter haben die Reden nicht einmal ein zugehöriges Subjekt; wie hartnäckige Substanzen besetzen sie den Platz im Off, kommen mal von dieser, mal von jener Richtung. Auch die Protagonistin wird wieder und wieder im Off abgestellt; es scheint so, als hätten die anderen sie buchstäblich aus dem Bild gedrängt. Eine Szene in einem Zugabteil, in der nicht nur geredet, sondern auch gesungen wird, dauert eine ganze Weile, bis die Kamera erstmals die in der Ecke sitzende Hauptfigur zeigt. Die Ausgefeiltheit und Präzision, mit Bildtableau und „Hörstück“ hier zu einem Raum synthetisiert, lässt die abstrakte Konstruktion dahinter umso mehr hervortreten. Der realistische Boden des Films wird immer instabiler, bis er irgendwann komplett bricht, wodurch die „Die Sanfte“ in ein komplett anderes Register wechselt: in das des Traums. Loznitsa macht die Frau, deren Titelanspielung bis zuletzt eine Irritation bleibt, da sich ihre Sanftheit höchstens in absoluter Passivität manifestiert, zur Urheberin dieses zwischen Groteske und blankem Horror changierenden Traums, den sie unmöglich selbst geträumt haben kann. In „Die Sanfte“ scheinen die Dinge nie vollständig zur Deckung zu kommen. Zumindest in diesen Lücken mag man die Freiräume ausmachen, die der Figur mit so viel Härte verwehrt werden.
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