Meisterhafter Dokumentarfilm über die Ereignisse auf dem Maidan-Platz in Kiew, wo ab Ende November 2013 Hunderttausende friedlich gegen die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens der Regierung Janukowytsch protestierten. Zwei Monate später eskaliert die Lage auf dem Platz, als Sondereinheiten der Polizei den Maidan gewaltsam räumen wollen. Der Film fängt das Treiben der Menschen fast durchweg in unbewegten, lange dauernden Totalen ein, ohne einzelnen Figuren zu folgen oder den Blick des Publikums zu lenken. Während der Fokus zunächst auf der logistischen Herausforderung der Proteste liegt, dominieren im zweiten Teil Straßenschlachten und die bürgerkriegsähnliche Zuspitzung. Die Spannung zwischen der betont sachlichen Form und den aufpeitschenden Emotionen auf der subtil gestalteten Tonspur lassen das Entstehen einer Revolution hautnah miterleben. (O.m.e.U.)
- Sehenswert ab 14.
Maidan
Dokumentarfilm | Ukraine/Niederlande 2014 | 133 Minuten
Regie: Sergej Loznitsa
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Filmdaten
- Originaltitel
- MAIDAN
- Produktionsland
- Ukraine/Niederlande
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Atoms & Void
- Regie
- Sergej Loznitsa
- Buch
- Sergej Loznitsa
- Kamera
- Sergej Loznitsa · Serhiy Stefan Stetsenko
- Schnitt
- Sergej Loznitsa · Danielius Kokanauskis
- Länge
- 133 Minuten
- Kinostart
- 03.09.2015
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Meisterhafter Dokumentarfilm über die Ereignisse auf dem Maidan-Platz in Kiew, wo ab Ende November 2013 Hunderttausende friedlich gegen die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens der Regierung Janukowytsch protestierten.
Diskussion
Selten ist die historische Bedeutung eines Films so evident wie im Fall von „Maidan“. Sergej Loznitsa zeigt, wie Geschichte gemacht wird: Ende 2013 bis Anfang 2014 filmte der ukrainische Regisseur mit den Kameramännern Serhiy Stefan Stetsenko und Mykhailo Yelchev die Ereignisse auf dem titelgebenden Platz im Zentrum von Kiew. Am 21. November 2013 begannen dort die Demonstrationen gegen die Regierung, nachdem der von Russland unterstützte Präsident Wiktor Janukowytsch ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union überraschend nicht unterschrieben hatte. Anfänglich trafen sich ein paar tausend Protestierende, doch binnen weniger Tage wurden es über eine halbe Million. Am 22. Februar 2014 floh Janukowytsch aus der Hauptstadt.
Die erste Einstellung von „Maidan“ zeigt in einer starren, über zweiminütigen Einstellung eine riesige Menschenmenge, die das komplette Bild ausfüllt. Die Masse singt der Kamera zugewendet die ukrainische Nationalhymne („... Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit“). In dieser ersten Einstellung sind bereits alle wichtigen Gestaltungselemente von „Maidan“ vorgegeben. Die Kamera wird auch in der Folge – mit zwei kurzen Ausnahmen – unbewegt bleiben. Und sie wird ausschließlich Totalen filmen. Selten fängt sie dabei weniger als ein Dutzend Menschen ein, oftmals sind es Hunderte. Loznitsa löst niemanden aus der Menge heraus, er folgt keinem Protagonisten. Das ganze bzw. zumindest das ganze aufständische Volk ist der Star von „Maidan“.
Diese erste Einstellung öffnet auch schon den weiten Assoziationsraum des Films. Er entsteht gerade deshalb, weil „Maidan“ die Aufmerksamkeit des Zuschauers kaum lenkt. Loznitsa selber sieht die Masse auf dem Platz in einer langen kulturhistorischen Tradition verankert. Er versteht sie, wie er in Interviews betont hat, als eine moderne Verkörperung des Chors der griechischen Tragödie, aus dessen Gesang sich das antike Drama erst entwickelt hat. Der Chor bildet für ihn eine Art kollektiven Körper. Er vertritt die Stimme eines Volkes, das seine demokratischen Rechte einfordert und nicht weichen will, bis seine Forderungen erfüllt sind. Der Rückgriff auf die Antike mag weit hergeholt klingen, aber die Bilder vom „Majdan Nesaleschnosti“, so der volle ukrainische Name des Platzes, zeigen, wie präsent solche Bezüge auch heute noch sind. Immer wieder fängt die Kamera die protestierende Bevölkerung vor griechisch-römischen Säulenordnungen ein, sei es vor dem Unabhängigkeitsdenkmal in der Mitte des Platzes, vor dem Gebäude der Nationalen Musikakademie oder der klassizistischen Architektur des ehemaligen Oktober-Palasts. Auch so wird die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa und dessen Tradition betont, um die es den Demonstranten geht.
Die erste Hälfte des Films legt den Fokus auf die Selbstorganisation des Volkes und die logistischen Herausforderungen einer Revolte, die zur Revolution wird: Autos werden umgeleitet, Barrikaden verfestigt, Plakate gemalt und Essen gekocht. Dazwischen schwingen Aktivisten Reden gegen Putin und Janukowytsch, Schriftsteller tragen patriotische Gedichte vor und Priester geben den Aufständischen ihren Segen. Die Stimmung auf dem Platz ist meist angespannt und ernst, bisweilen aber auch festlich.
Subtil arbeiten Loznitsa und Vladimir Golovnitskiy, der für den Sound verantwortlich ist, mit der Tonspur. Es scheint bisweilen, als kommentiere der Regisseur aus dem Off das Geschehen, wenn etwa zu einer Gruppe Protestierender rund um ein brennendes Ölfass von ferne leise die „Marseillaise“ herüberweht. Ölfässer, die als Öfen oder zur Verstärkung der Barrikaden gebraucht werden, fallen in den Totalen immer wieder auf. Sie lassen aber auch daran denken, dass aus dem französischen Wort für Fässer („barriques“) das Wort „Barrikaden“ entstand. Während der französischen Julirevolution von 1830 bildeten sie den Hauptbestandteil der Straßensperren. Mit Eugène Delacroix’ berühmtem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“, das diesen Aufstand zeigt, vergleicht Loznitsa seinen Film selbst gerne.
Diese Verbindung wird erst nach etwa 45 Minuten des Films offensichtlich, als Ende Januar 2014 die Situation auf dem Platz eskaliert. Sondereinheiten der Polizei versuchen, den Maidan zu räumen, die Demonstranten stellen sich ihnen entgegen. Die starren Einstellungen der Straßenschlachten mit ihren rauchenden Barrikaden vor der Silhouette der Großstadt wirken wie zum Leben erweckte Revolutions- oder Schlachtengemälde. Mit einem klaren Unterschied zum Gemälde von Delacroix’: Hier gibt es keine Marianne, die als Verkörperung der „libertas“ dem Volk auf den Barrikaden voranstürmt. Loznitsa verzichtet weiterhin darauf, einzelne Symbolfiguren hervorzuheben. Ironischerweise verbindet das „Maidan“ mit einem Klassiker des sowjetischen Kinos: Sergei Eisensteins Debütfilm „Streik“ (1924), der ebenfalls keine einzelnen Protagonisten kennt. Bei Eisenstein ist es nicht das Volk, sondern die Belegschaft einer Fabrik, die um ihre Menschenwürde kämpft. Durch eine solche „Kollektivierung“ des Blickwinkels entsteht natürlich nicht automatisch ein „objektiver“ Blick, was Eisensteins Film deutlich zeigt, der sich mit seiner expressiven Bildsprache in propagandistischer Absicht hinter die Arbeiterschaft stellt. Gleichwohl ist Loznitsa um eine möglichst wenig wertende Filmsprache bemüht, auch wenn er natürlich die Bildausschnitte wählt, die Längen der Einstellungen bestimmt und den Ton manipuliert.
Durch den Widerspruch zwischen der „sachlichen“ Form und den aufgepeitschten Emotionen in den Bildern entsteht die besondere Spannung von „Maidan“. Er nimmt „noch im Moment der Auseinandersetzung eine historische Position“ ein, wie es der Filmkritiker Bert Rebhandl treffend formuliert. Dadurch unterscheidet sich „Maidan“ kategorisch von Augenzeugenvideos auf Youtube und von tagesaktuellen Fernsehreportagen. Vor allem braucht Losznitsa für seine Totalen und langen Einstellungen die große Leinwand und den konzentrierten Blick. „Maidan“ ist somit nicht nur eine exzellente Quelle für künftige Geschichtswissenschaftler, sondern – in Zeiten plattformübergreifender Vermarktung audiovisueller Inhalte – auch ein Plädoyer für die singuläre Erfahrungsform Kino.
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