"Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl am Bühlsee? Nein? Nicht? Merkwürdig - keiner, den man fragt, kennt Seebühl!" Nun, die Kinder von heute werden auch kaum noch diesen zauberhaften Ferienort, nach dem Erich Kästner zu Beginn seines Romans fragte, kennenlernen. Denn Josef Vilsmaiers Neuverfilmung des Stoffes braucht zeitgemäßere Ferienattraktionen, die obendrein auch optisch mehr hergeben müssen. Und so reisen bei ihm die Schulkinder zu einem Sprachkurs nach Schottland, wo sich dann auch die beiden zehnjährigen Mädchen Charlotte, genannt Charlie, aus Berlin und Louiselotte, genannt Louise, aus Hamburg begegnen. Auf den ersten Blick sind beide so verschieden, wie es nur möglich ist: Charlie im "coolen" Outfit mit Baseballkappe, Lederjacke und Walkman ist großspurig, fast schon zu selbstbewußt, Louise hingegen verschwindet in schüchterner Zurückhaltung fast in ihrem vornehmen Kleidchen. Nach anfänglichen Hänseleien machen die beiden jedoch eine sensationelle Entdeckung: nicht nur, daß sie sich in Wahrheit ähneln wie ein Ei dem anderen, sie sind sogar am selben Tag in derselben Stadt geboren! Charlie und Louise sind Zwillinge, ohne bislang voneinander zu wissen. Louise, lebt bei ihrer Mutter, einer erfolgreichen Werbefachfrau, die viel zu sehr an ihre Karriere denkt, Charlie beim Vater, der sich eher schlecht als recht als Komponist durchs Leben schlägt. So glücklich die beiden Mädchen über ihre unverhoffte Begegnung sind, so ratlos stehen sie vor der im Grunde so grausamen Entscheidung der Eltern, sie als Babys auseinanderzureißen. Eigentlich müßten sich die Eltern doch einmal geliebt haben, sonst wären sie, die Kinder, ja jetzt nicht da. Um mehr von Vater und Mutter zu erfahren, hecken sie einen raffinierten Plan aus: Charlie und Louise fahren als die jeweils andere nach Hamburg und Berlin zurück. Indem jede viel vom Leben der anderen erfährt, verändern sie sich selbst ein wenig, gleichen sich in ihren Extremen aus. Und auch in den Eltern rührt sich ganz allmählich die Erinnerung an verdrängte Empfindungen füreinander.Von Seebühl nach Schottland, von Wien nach Berlin und Hamburg, von der betulichen Überschaubarkeit der 50er Jahre ins, wie Charlie sagen würde, "krasse" Großstadtleben der Gegenwart - es ist schon ein großer Sprung von der fast 45 Jahre alten Erstverfilmung des Kästner-Stoffes durch Josef von Baky ("Das doppelte Lottchen", fd 1004) zu Vilsmaiers moderner Adaption. Wichtig ist, daß man sich von der Versuchung des direkten Vergleichs beider Versionen löst - zu sehr ist die frühe Version in der Erinnerung zu einer Art "Mythos" des klassischen Kinderkinos geworden, fast schon zu einer sozialpsychologischen Bestandsaufnahme der 50er Jahre, als noch eine ganze Nation auf der Suche nach ihrer verlorenen Kindheit war. Zudem hat von Bakys Film den unwiederholbaren Vorteil, daß Erich Kästner selbst als Erzähler fungierte und mit unvergleichlicher Sprachkunst alle Klippen filmischer Süßlichkeit umschiffte. Vieles von der in Kästners Roman bemerkenswerten hintergründigen Tiefe, seines Humors, seiner Herzenswärme und Ironie ist bei Vilsmaier auf der Strecke geblieben und versandet in der nicht sonderlich dichten Inszenierung. Andererseits ist das im Roman eher bescheiden dramatisierte Ende jetzt viel effektgeladener: Charlie und Louise kehren angesichts des Konflikts ihrer Eltern nach Schottland zurück und verstecken sich bei heftigem Sturm in ihrem geliebten Leuchtturm. Nur noch das liebenswert unpassende Tischgebet, das sie angesichts der drohenden Gefahr zum Himmel schicken, erinnert an die Vorlage. Auch für die ergreifende Romanszene, in der die Mutter erkennt, daß sie ihrem anderen Kind gegenübersteht ("Die Frau und das kleine Mädchen merken von alledem nichts. Sie sind, wie es manchmal heißt und ganz selten vorkommt, nicht ,von dieser Welt'."), findet Vilsmaier nur ein zwar tränenreiches, aber kraftloses filmisches Bild. Und doch erweist sich jenseits der veräußerlichenden Modernität die Fabel selbst als unverwüstlich: auch Vilsmaiers Version gefällt als märchenhafte Utopie vom harmonischen Familienglück, an die eigentlich nur noch die Kinder glauben können, weil sich die Erwachsenen in ihrem Seelenschmerz und ihrer Enttäuschung verkapselt und resigniert haben. Vor allem die Darsteller geben dem Film die nötige Frische und Glaubwürdigkeit: die Zwillinge sind sympathische Identifikationsfiguren für das kindliche Publikum, Heiner Lauterbach spielt vielleicht etwas glatt, aber warmherzig den Vater, Corinna Harfouch vermittelt als Mutter sehr leise viel von der unverarbeiteten Trauer, die sie empfindet.