Vor fast genau sieben Jahren, am 11. März 2011, ereignete sich östlich der Küste von Honshu eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der jüngeren Menschheitsgeschichte. Das Tohoku-Seebeben, selbst im erdstoßgeplagten Japan das heftigste je gemessene Ereignis seiner Art, löste eine gigantische Flutwelle aus, die auf bis zu 37 Meter anwuchs und die Küstenorte verwüstete – am stärksten in der Region Miyagi. Der Tsunami, ein japanischer Ausdruck für Hafenwelle, forderte in dem hoch entwickelten Industrieland mindestens 15.893 Menschenleben; 2.500 Personen gelten bis heute als vermisst.
In der Erinnerung der deutschen Öffentlichkeit wird der 11. März aber viel stärker mit einer anderen Folge des Seebebens verbunden: Im Atomreaktor Fukushima-Daiichi, 150 Kilometer vom Epizentrum entfernt, zerstörten 14 Meter hohe Flutwellen die Notstromversorgung, so dass in der Folge das Kühlsystem des Reaktors versagte und radioaktive Strahlung entwich. In den Tagen nach dem Atomunfall wurden die in der Umgebung lebenden Menschen in einem Radius von zwei Kilometern in Sicherheit gebracht. Später wurde diese Zone schrittweise auf 20 Kilometer Entfernung zum Atomkraftwerk erweitert.
Der deutsche Regisseur Thorsten Trimpop hat einen Dokumentarfilm über den Ort Minamisoma gedreht, der zur Hälfte in der 20-Kilometer-Zone liegt. Trotz einer viel zu hoher Strahlenbelastung dürfen Menschen in der anderen Hälfte der Stadt leben, auf eigene Gefahr. Der beobachtende, ungeheuer traurige Film heißt „Furusato – Wunde Heimat“ und erzählt von erstaunlichen, sehr japanischen Menschen. Es sind Ältere, etwa ein Mann, der beschlossen hat, in der Heimat seiner Ahnen zu sterben. Er scheint gar nicht anders zu können. Aber auch Jüngere rücken ins Bild, etwa eine furchtlose Pferdezüchterin, die mit anschauen muss, wie ihre Fohlen immer abgemagerter und kränker werden. Viele scheinen die Bedrohung einfach hinzunehmen. Bei Autofahrten durch Geisterdörfer sieht man verlassene Tempelanlagen, traditionelle japanische Häuser mit ihren Schiebetüren, den auf dem Boden leicht aufgequollenen Tatami-Matten.
„Furusato“, der ohne einordnenden Kommentar auskommt, ist kein vordergründig politischer Film, auch wenn er die Folgen einer Atomkatastrophe zum Gegenstand hat. Ein ehemaliger Ingenieur des Reaktorbetreibers Tepco berichtet von den Versäumnissen nach dem Unfall, etwa von Arbeitern, die wochenlang der Strahlung ausgesetzt waren. Kontrastiert wird dies mit fröhlichen Erklär-Videos über das Atomkraftwerk. Später sieht man den Ingenieur vor der Küste Fukushimas auf einem Kutter rohen Fisch essen. Ein Mann, der als Freiwilliger in diese Gegend kam, tritt in den Hungerstreik, um vor einem Staffellauf zu warnen; doch er wird einfach ignoriert. Trotzdem verteilt er Schutzmasken; viele Kinder in der Region sind an Schilddrüsenkrebs erkrankt.
Es macht ratlos, wie unsystematisch der Schutz vor der Strahlung hier betrieben wird. Die Behörden prüfen die Luft regelmäßig auf erhöhte Werte, doch die Objekte auf der Erde bleiben unergründet. Dennoch erstaunt die stoische Duldsamkeit der hier porträtierten Menschen und nötigt Bewunderung ab.
Dissonante Töne aus dem Off unterstreichen den Eindruck, dass hier alles aus den Fugen geraten zu sein scheint. Das ewige Rattern des Geigerzählers macht einen als Zuschauer paranoid. Seien es die trägen Bewegungen der Menschen, seien es die diesig übergrünten Anhöhen – man sieht alles nur noch mit Strahlenaugen. Manche dieser stummen, bewegten Verfallsdokumente erinnern in ihrem trägen Rhythmus an Bilder aus Spielfilmen wie Andrej Tarkowskis „Stalker“ (fd 22 921). Es ist diese Harmonie von Inhalt und Form, die „Furusato – Wunde Heimat“ zu einem ebenso beklemmenden wie eindrücklichen Film macht.