Ende eines Sommers

Drama | Frankreich 2008 | 98 Minuten

Regie: Olivier Assayas

Eine großbürgerliche Familie trifft sich während der Sommermonate im prachtvollen Landhaus, wo die alleinstehende Besitzerin ihren 75. Geburtstag feiert. In den Gesprächen mit ihren drei erwachsenen Kindern geht es auch um die Frage, was mit dem Anwesen und dessen wertvollem Interieur nach ihrem Tod geschehen soll. Mit nostalgischer Wehmut beleuchtet der elegant inszenierte Film das Ende des bürgerlichen Zeitalters, in dem die Gegenstände ihre magische Aufladung und damit ihre Bindung an die Vergangenheit verlieren. Die Bezüge zur wirtschaftlichen Euphorie der Nuller-Jahre kurz vor dem Finanzcrash 2008 unterstreichen zusätzlich die eher kulturpessimistische Tönung eines Zeitenwandels. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
L' HEURE D'ÉTÉ
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
MK2 Prod./France 3 Cinéma
Regie
Olivier Assayas
Buch
Olivier Assayas
Kamera
Eric Gautier
Schnitt
Luc Barnier
Darsteller
Juliette Binoche (Adrienne) · Charles Berling (Frédéric) · Jérémie Renier (Jérémie) · Edith Scob (Hélène) · Valérie Bonneton (Angela)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Durch und durch nostalgischer, aber trotzdem ganz gegenwärtiger Film von Olivier Assayas

Diskussion
Der ersten Hauptfigur begegnet man schon während des Titelvorspanns: einem prachtvollen Landhaus im Stil des späten 19. Jahrhunderts. Umgeben von einem großen Garten, der in der Sommersonne in einer Vielzahl von Grüntönen leuchtet, steht es für die Kontinuität des Lebens, das in ihm pulsiert, und in dem die Vergangenheit als Vorgeschichte der Gegenwart aufgehoben ist. Die Gegenwart meint in erster Linie die von Hélène, der einzigen Bewohnerin des Hauses. Sie wird von Edith Scob gespielt, die als blutjunge Darstellerin in Georges Franjus „Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff“ (1959 (fd 9003)) französische Kinogeschichte schrieb. Hélène ist eine Frau in ihren Siebzigern. Sie hat drei Kinder, mehr als ein halbes Dutzend Enkel und steht noch immer aktiv und vital mitten im Leben. Ihr Lebenswerk ist aber nicht in erster Linie die Familie, sondern die Pflege und Bewahrung des Nachlasses ihres Onkels Paul Berthier, eines spätimpressionistischen Malers. Hélènes Verhältnis zu ihm, das in ihren Erinnerungen noch immer ganz lebendig ist, schillernd in hundert Nuancen zwischen schülerinnenhafter Verehrung und einer angedeuteten Liebesbeziehung, zwischen Selbstlosigkeit und Eigensucht. Das Haus ist vollgestopft mit Möbeln und Werken bedeutender Designer, wertvollen Objekten, die schon lange von den Pariser Museen umworben werden. Zwei Bilder von Corot hängen ebenfalls hier. Das Anwesen gehörte einst ebenfalls Paul. Auch wenn man den vor vielen Jahrzehnten verstorbenen Künstler nie sieht, ist er überaus präsent und in allen Charakteren des Films lebendig; ein geisterhaft anwesender Untoter, der eine frappierende Brücke zum jüngsten Film des Regisseurs Olivier Assayas schlägt, dem Geisterthriller „Personal Shopper“ (fd 44 438). Es ist Sommer. Wie es in vielen französischen Familien üblich ist, kommen Hélènes längst erwachsene Kinder mit ihren Familien für einen Teil der Ferien ins Haus, in dem sie selbst aufgewachsen sind. Ein Generationentreffen. Während die Enkel im Garten herumtollen und der Geschichte ihr eigenes Profil leihen, lernt man die Kinder besser kennen: Adrienne (gespielt von Juliette Binoche) lebt größtenteils in den USA und arbeitet als Innendesignerin. Sie weiß um die Magie der Objekte, die Macht von Schönheit und Fetischismus. Von Beginn an ist viel von dieser Energie die Rede, die ein silbernes Tablett in Gestalt einer Seerose oder eine Teekanne von Georg Jensen entfalten können, beiläufig-selbstverständliche Insignien eines großbürgerlichen Lebensstils. Und von dessen Vergehen. Nicht weniger, aber in ganz anderer Weise materialistisch ist Jérémie (Jérémie Renier), der jüngste der drei Kinder, der als Geschäftsmann in China tätig ist, wo er billige Sneakers produziert. Seine Schwester neckt ihn, keineswegs nur im Scherz, mit der ultimativen Bedeutungslosigkeit der Massenproduktion, was ihn zur Replik veranlasst, dass diese in der Gegenwart Vergangenheit wie Zukunft aussticht. Der Älteste ist Frédéric (Charles Berling), ein Professor. Von allen Geschwistern ist er derjenige, der am stärksten am Haus und den Gegenständen, die es beherbergt, hängt. Hélène nimmt ihn eines Tages zur Seite und erklärt ihm, dass das Haus nach ihrem Tod aufgelöst und aller Besitz verkauft werden soll. Frédéric kann und will sich das nicht vorstellen. Würde der Abschied von den Gegenständen nicht auch den Faden zur Vergangenheit für immer zerreißen? Auf der anderen Seite ist er aber durchaus der Frage zugänglich, ob man all das, dem die Mutter ihr Leben gewidmet hat, wirklich bewahren soll. Die Frage bleibt nicht lange theoretisch. Der zweite Akt des Films, der die Zeit nach Hélènes Tod beschreibt, zeigt, wie die Geschwister mit den materiellen Hinterlassenschaften der Mutter umgehen und wie sich die Bedeutung dieser Gegenstände in dem Augenblick wandelt, in dem mit ihrer Besitzerin auch ihre Verbindung zum Leben nicht mehr existiert. Allerdings geht es hier weder um den Einzelfall noch um das private Verhältnis mehrerer Generationen. Denn das „Ende eines Sommers“ ist ganz wörtlich gemeint: Häuser und Gegenstände wie das von Hélène haben über Jahrzehnte und bisweilen sogar über Jahrhunderte hinweg die Identität einer Familie verkörpert und an nachfolgende Generationen weitergetragen. Dieses Weitertragen scheint heute nicht mehr zu funktionieren: die Objekte verlieren ihre Bedeutung. „L’Heure d’été“ wird damit zu einem Film über das Ende des bürgerlichen Zeitalters und über das Downsizing dessen, das einmal „abendländische Kultur“ genannt wurde. Assayas zeigt, dass nicht nur die Gegenstände verschwinden, sondern mit ihnen auch ihre Magie und das Geheimnis, das sie bergen; beispielhaft gespiegelt in den Objekten, die ganz offensichtlich etwas vom Verhältnis von Hélène und Paul erzählen; mit dem Ende der Geheimnisse verschwindet aber auch alles andere. Gleichzeitig handelt der Film auch von Frankreich und den Folgen der Globalisierung in den Nuller-Jahren. Über den zwischen Amerika und Fernost zerrissenen drei Geschwistern schwebt mehr als nur ein Hauch vom „Bling Bling“ der Sarkozy-Präsidentschaft und des neureichen Börsentrubels, der etwa zeitgleich mit der Premiere des Films im Herbst 2008 in Folge des Finanzcrashs zerbarst. Insbesondere Frédéric steht für das alte, traditionelle Frankreich, das sich im Strudel der Globalisierung und eines unkontrollierten Kapitalismus rasant aufzulösen scheint. Heute, im Abstand von fast zehn Jahren, erscheint „Ende eines Sommers“ als durch und durch nostalgischer, fast ein wenig altmodischer Film, erfüllt mit vielen Referenzen an französische Filmklassiker und die französische Malerei. Zugleich aber gelingt dem Film in all diesen Bezügen und Sehnsüchten eine Gegenwärtigkeit, die aus der Vergangenheit eine Art utopische Kraft zu ziehen scheint. Die Inszenierung gleitet nie ins Sentimentale ab, alle Figuren sind gleichermaßen erwachsen und intelligent, verständlich und sympathisch; es sei das Schrecklichste im Leben der Menschen, heißt es in Jean Renoirs „Die Spielregel“, „dass alle gute Gründe haben“. Warum dieser Film im Gegensatz zu dem allermeisten Filmen von Assayas in Deutschland nicht ins Kino kam und auch sonst kaum wahrgenommen wurde, hat möglicherweise mit seiner Hellsichtigkeit zu; bislang hat die europäische Kultur jedenfalls noch keinen Weg gefunden, um aus dem Modus des Antiquarisch-Musealen und seiner allumfassenden Kommerzialisierung herauszufinden. Vielleicht möchte man das, was Assayas erzählt, nicht hören? Vielleicht möchte man das Ende des Sommers noch nicht wahrhaben?
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