„Hier bekommen wir Eiscreme umsonst!“ Natürlich ist es eine süße Lüge, was die kleine Jancey da von der sechsjährigen Moonee und ihrem Kumpel Scooty aufgetischt bekommt. Denn vor den Genuss haben die Regeln des Kapitalismus für diese Kinder erst mal das Schnorren bei den zahlenden Gästen gesetzt, ein Lächeln da, eine Flunkerei hier, bis sich die Cents irgendwann zu einem Softeis summieren, das man gemeinsam lecken kann.
Herkömmliche Denkweisen der Ideologiekritik befehlen einem geradezu, diese bonbonfarbene Plastikwelt, durch die die Kinder rund um Disneyworld in Orlando streifen, für eine süße Lüge zu halten, die violetten oder pinkfarbenen Fassaden herunterzureißen und den nackten Terror der Ausbeutung dahinter bloßzulegen. Regisseur Sean Baker, der zuletzt mit dem komplett auf dem iPhone gedrehten Drama „Tangerine L.A.“
(fd 44 020) über eine Transgender-Prostituierte in Los Angeles Aufmerksamkeit erregte, geht jedoch behutsamer vor.
Für einen erwachsenen, zwangsläufig desillusionierten Blick ist es ein schäbiges Leben, das diese Kinder mit ihren Eltern führen. Moonee und ihre Mutter Halley, eine aufgekratzte, blauhaarige Zeitbombe Anfang 20, leben im „Magic Castle“, einem Motel, das wie viele andere in der Nachbarschaft errichtet wurde, um all die Touristen aufzunehmen, die es nicht mehr in die Glitzerhotels des Vergnügungsparks schaffen. Die meisten Zimmer jedoch sind dauerhaft von Menschen besetzt, die faktisch obdachlos sind, Kleinstfamilien, in denen die Abwesenheit der Väter so selbstverständlich ist, dass sie nicht einmal erwähnt werden muss.
Halley ist als Stripperin rausgeflogen, weil sie sich geweigert hat, den Kunden Extra-Service auf der Toilette zu bieten; aber auch sinnvolleren Dingen entzieht sie sich häufig. Dafür sammelt Moonee regelmäßig Waffeln aus einem Diner ein, in dem die Mutter ihres Freundes Scooty arbeitet. Ein paar Kröten bringt auch der Verkauf von billigem Parfüm aus dem Großmarkt, das sie auf den Parkplätzen der guten Hotels feilbieten. Solange sie nicht erwischt werden, versteht sich.
Doch so unbedingt der Film sich und seinen Figuren jede Larmoyanz verbietet, so frisch und wahr und einzigartig stellt sich dieses Leben aus den Augen der Kinder dar – zumal, wenn es Sommer ist und der ganze Tag daraus bestehen könnte, an Souvenirständen vorbeizuziehen und scheinbar kostenloses Eis und Waffeln zu schnorren. Der mexikanische Kameramann Alexis Zabe, der auch einige der ungleich strengeren Bildwelten seines Landsmanns Carlos Reygadas mitgestaltet hat, lässt die Aufnahmen, die sich bisweilen wild ins turbulente Geschehen werfen, immer wieder auf der Disney-Märchenarchitektur verharren, an der die Kinder wie Zwerge vorüberziehen. Nicht, um deren Zwergenhaftigkeit hervorzuheben, sondern um die Zauberkraft des Märchens zu unterstreichen.
Der Sommer zerfällt in kleine Episoden, die mal Moonee und ihre Freunde begleiten, mal Halley auf ihren Wegen und Abwegen. Und Bobby, den Manager des Motels, das längst keines mehr ist. Am mitfühlenden Gesicht des Schauspielers Willem Dafoe zieht bald aber eine Katastrophe vorbei. Deren Auswirkungen lassen sich dann auch von dem Allrounder Bobby mit all seinen pädagogischen, handwerklichen und kaufmännischen Aufgaben nicht mehr bewältigen.
Bis dahin aber flutet die Inszenierung durch eine Welt, die im sozialen Schatten liegt, trotzdem aber Licht und Farben hat. Ein wenig erinnert die Energie, mit der hier der Sommer in Momente intensiven Lebens zerlegt wird, an Andrea Arnolds „American Honey“
(fd 44 197), einen anderen zeitgenössischen Film, in dem das Motel als architektonische Allegorie für Armut und Erlebnishunger zugleich steht. Sean Baker selbst nennt „Die kleinen Strolche“, eine episodische Fernsehserie aus den 1950er-Jahren, als Inspirationsquelle. Mit „The Florida Project“ legt er einen Schutzschild um die Figuren, der sie vor der Hässlichen in der Wirklichkeit schützen soll.