Warum reiten? Die weißen Schnürschuhe, die Catherine Weldon unter ihrem langen rüschigen Kleid trägt, sind staubige Wege gewohnt. In New York gibt es schließlich keine Pferde. Doch hier in North Dakota kann man im Frühjahr 1889 die Trampelpfade kaum sehen; das Geröll ist kantig, die Hitze erbarmungslos und die Entfernungen enorm. Wenn man im Westen frei sein will, muss man ein Pferd haben, bekommt sie von jenem Indianer zu hören, dessentwegen sie den langen, im luxuriösen Pullmanwagen gar nicht so beschwerlichen Weg auf sich genommen hat.
Im staubigen Nichts zwischen dem Indianerreservat Standing Rock und den nicht weniger schäbigen Siedlungen der Weißen treffen sich zwei Menschen, die erst lernen müssen, sich gegen die sie begrenzende Welt aufzulehnen. Catherine Weldon, die zunächst die Nähe von Pferden nur schwer ertragen kann, hat lange mit dem Schicksal gehadert. Mit Geduld und Demut hat sie erst ihren drakonischen Vater und dann ihren reichen Mann überlebt. Nun kann sie als wohlhabend-aufgeklärte Witwe ihr Leben in die eigenen Hände nehmen.
Es sind begabte Hände, denn Senatoren bezahlen 40 Dollar, um von Weldon auf Leinwand porträtiert zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts ist das eine Menge Geld. Die Enddreißigerin hat sich schon immer für beide Seiten der Medaille interessiert. Für die Geschichten des Westens, die alten Tragödien von Little Bighorn, für Sieger und Besiegte. In den Archiven und Museen gibt es viel zu sehen und zu lesen. Jedoch kaum etwas über einen der einstigen Hauptakteure, Sitting Bull. Erst recht existiert kein Gemälde von dem Sioux-Häuptling. Um das zu ändern, reist Weldon nach North Dakota. Gegen den Widerstand der Armee will sie Sitting Bull treffen und malen. Sie will dabei aber auch ihre eigene Vergangenheit abschütteln. Doch in den staubigen Weiten des rauen Landes begegnet ihr eine deprimierende Gegenwart, in der stolze Helden dämonisiert und von den Siegern in steife Anzüge und viel zu kleine Holzhäuser gepfercht werden.
Die reiche Frau aus dem Osten trifft auf den scheinbar gebrochenen Indianer aus dem Westen, der lieber Kartoffeln anbaut, als für seine Würde einzustehen. Eine scheinbar weltoffene, liberale Frau begegnet einem scheinbar gefangenen Mann, der seine Vergangenheit negiert. Zwei Kulturen treffen aufeinander, die nicht füreinander bestimmt sind. Doch für 1000 Dollar will sich Sitting Bull malen lassen. Eine unerhörte Summe, doch Weldon willigt ein. Aus Neugier und aus Trotz.
Der Film von Susanna White ist kein Western, obwohl er im Westen spielt. Er ist keine Liebesgeschichte, obwohl er von der Liebe handelt. Es gibt keine Schießereien, weil die Kugeln längst in den Protagonisten stecken. Er hat keine Feindbilder, obwohl er von ewiger Feindschaft handelt. Einzig Sam Rockwell als zynischer US-Colonel Silas Grove und Ciarán Hinds als für das Reservat verantwortlicher Officer James McLaughlin verkörpern in den Nebensträngen der Handlung das Klischee einer gegenüber Frauen wie Indianern gleichermaßen arroganten und unbarmherzigen Gesellschaft, die das tragische, von der Historie diktierte Ende des Films bedingt. Gegen diese beiden, Grove und McLaughlin, muss sich Weldon behaupten. Doch das Gesetz wie die Waffen sind letztlich machtlos gegen die wachsende Freundschaft zwischen dem Indianer und der weißen Frau.
„Die Frau, die vorausgeht“ ist über weite Strecken ein Drama, das wortreich mit den geschundenen Gefühlen seiner beiden so unterschiedlichen Protagonisten umgeht. Zweier Menschen, die voneinander lernen und aneinander wachsen. In einem anderen Film würden sie als Liebespaar gegen die unsäglichen Umstände aufbegehren. Regisseurin White hält jedoch allen Kitsch außen vor und beschränkt sich auf das Beiläufige. Das ist manchmal anstrengend, aber immer ehrlich.
Im Mittelpunkt stehen die beiden Hauptdarsteller, die ihre Figuren nie in übertriebenen Posen ausstellen. Der Film wirkt durch die kraftvoll-epischen Bilder, die den Werken der Produzenten Edward Zwick und Marshall Herskovitz gemein sind. Filme wie „Glory“
(fd 28 281) „Legenden der Leidenschaft“
(fd 31 273) und „Last Samurai“
(fd 36 316). Er wirkt auch durch die sperrig-harmonische Musik von George Fenton, der „Gandhi“
(fd 23 870) vertont hat, aber auch die Filme von Ken Loach.
Catherine Weldon sagt zu Sitting Bull einmal fast ein wenig resignierend: „Es ist verdammt schwer, tapfer zu sein.“ Ein wunderbarer Satz für einen Film, der keine starken Helden zeigt, sondern Menschen, die versuchen, dem Leben die Stirn zu bieten.