Wie man in der Neuauflage von „Mord im Orient Express“ (fd 45 082) jüngst beobachten konnte, kann sich ein Zug in einen wahren Mikrokosmos verwandeln, in ein Nebeneinander von Dekors und Milieus, einzig vereint im komprimierten Luxus. Der nordirische Schauspieler Liam Neeson, der sich vor Jahren einer der erstaunlichsten Image-Wandlungen im zeitgenössischen Hollywood unterzogen hat, würde in einen solchen Zug nicht passen; die Schienenfahrzeuge existieren ohnehin längst nicht mehr als Aufenthaltsräume, sondern als Geschwindigkeitsröhren, in denen die flexibilisierten Menschen an ihren jeweiligen Einsatzort geschossen werden.
Neeson spielt in „The Commuter“ einen solchen Pendler. Der Regisseur Jaume Collet-Serra hat seinen Lieblingsdarsteller schon 2014 in „Non-Stop“ (fd 42 248) in ein Flugzeug gestopft, wo sich zwischen Metallhülle und Passagieren eine bösartige Macht zu entfalten schien, der Neeson als Air Marshal sich entweder unterwerfen oder Einhalt gebieten konnte. Der Familienvater und Ex-Cop Michael MacCauley ist in „The Commuter“ erneut einer, dem seine Ohnmacht gleich doppelt vor Augen geführt wird. Zuerst verliert er bei einer New Yorker Versicherung seinen Job, weil seine Vertragsabschlüsse nicht mehr in dem erwünschten Verhältnis zum Gehalt stehen. Dann setzt sich auf der Rückfahrt in die Vorstadt auch noch eine Frau namens Joanna zu ihm und beginnt ein Gespräch. Vera Farmiga versteckt das Maliziöse ihrer Figur hinter einer freundlichen, manchmal sanft verführerischen, fast unsicher wirkenden Allerweltsfassade. Doch was sie anzubieten hat, ist teuflisch: Dem frisch Entlassenen winkt Geld, viel Geld sogar; alles, was er dafür tun muss, ist, eine Person ausfindig zu machen und mit einem GPS-Gerät zu markieren, bevor diese den Zug verlässt.
Mit MacCauleys moralischem Dilemma beschäftigen sich die Drehbuchautoren Byron Willinger und Philip de Blasi nur kurz, womöglich zu kurz; denn Joanna und die, die mit ihr und für sie die Fäden ziehen, schaffen schnell Fakten. Die Familie des Pendlers wird bedroht. Ein befreundeter Mitfahrer, dem MacCauley eine heimliche Nachricht zukommen lassen wollte, wird kurz nach dem Aussteigen vor einen Bus gestoßen. Anscheinend hat Joanna ihre Augen und Hände überall; ihre Stimme, die jetzt durchs Telefon bellt, wird herrisch. Also macht MacCauley sich auf die Suche, um eine Person zu retten oder zu verdammen; was von beiden am Ende obsiegt, wird sich erst noch zeigen.
Dieser Michael MacCauley ist trotz seiner Polizeierfahrung ein untypischer Held für Liam Neeson, kein Profi, eher ein Büromensch, in dem dennoch das Muskelgedächtnis des Gesetzeshüters schlummert. Seinen Weg durch den Zug und zurück, seine Suche, seine Auseinandersetzungen und Begegnungen intensiviert die Inszenierung mit suggestiven Zooms, mit langen, auch hektischen Kamerafahrten. Vor allem aber ist der Film ein Triumph für den Szenenbildner Richard Brigdland und den Kameramann Paul Cameron. Da die Metropolitan Transit Authority weder ein Schienenfahrzeug noch ihr Streckennetz für die Dreharbeiten zur Verfügung stellen wollte, wurde das gesamte Set im Studio nachgebaut. Das Ergebnis ist beeindruckend: eine alte, rumpelnde Eisenbahn aus fleckigem Stahl, die knirscht und rattert und deren graue Düsternis immer wieder schlaglichtartig vom warmen Licht eines Sommernachmittags erhellt wird, das durch die Fenster fällt, sobald der Zug den Untergrund New Yorks verlassen hat.
Am Ende steht die vollständige Eskalation eines Paranoia-Thrillers, ohne dass das Geschehen dadurch zerfasern oder wie der wohlfeile Nachschlag einer auserzählten Geschichte erscheinen würde. Das ist dem souveränen Rhythmus des Autorenduos und der dynamischen Inszenierung zu verdanken. Die Filmemacher holen das Beste aus der narrativen Prämisse, die auf seltsame Weise schon als Standardsituation mit dem Körper von Liam Neeson verschmolzen zu sein scheint.