Walter Stein hat immer dazugehört. Er ist einer der Erfolgreichen, einer, der es geschafft hat. Dann wird ihm völlig unerwartet gekündigt. Eben noch Marketing-Direktor bei einem Kosmetikhersteller, fühlt er sich plötzlich wie ein Nichts. Walter – tadellos sitzender Anzug, schütter werdendes Stirnhaar – weiß nicht mehr, wer er ist, was er tun soll, wohin es gehen kann. Wozu das schicke Haus? Der teure Wagen? Die Ehe mit Nicole, die als Lektorin auf einmal erfolgreicher ist als er? Walter hat „für sein Leben gerne gearbeitet“. Auch abends klappte er auf dem Sofa seinen Laptop auf, während seine Frau allein im Bett verschwand. Und so kommen nun all die guten Ratschläge, den Umbruch als Chance zu sehen, nicht bei ihm an. Der geschasste Geschäftsmann trägt schwer am Image-Verlust, an der gefühlten Sinnlosigkeit seines Daseins, sicher auch daran, dass ihn sein berufliches Netzwerk, über Jahre sorgfältig geknüpft, nicht auffängt. Während alle anderen im Büro sind, fährt er ziellos durch die Gegend oder geht spazieren, mitten am Tag. Je mehr er grübelt, desto feindlicher wähnt er seine Umwelt. Walter will einen Schlussstrich ziehen, überlegt es sich dann aber anders und ergreift schließlich eine eigenartige Chance, um ein anderes Leben anzunehmen. Nur hat das dann doch zu viel Ähnlichkeit mit seinem alten.
Was bleibt von einem Menschen übrig, wenn ihm die Arbeit abhanden kommt? Wenn Selbstverwirklichung bislang nur im Büro stattgefunden hat? Diesen Fragen spürt Julia Keller in ihrem Spielfilmdebüt in Form eines kleinen, dichten Dramas nach. Das Thema ist angesagt im digitalen Zeitalter, in einer globalisierten Welt, in der die Arbeitswelt sich verändert. Walter gehört mit Mitte 40 fast schon zum alten Eisen, auf dem Markt gibt es viel zu viele, die jünger, leistungsbereiter und karrieregeiler sind als er. Der Wettbewerb ist hart. Bislang hat er immer mitgezogen. Dabei ist der Traum vom anderen Leben auf der Strecke geblieben. „Ich musste heute an Schweden denken“, sagt Nicole einmal versonnen. „Wann ist das eigentlich in Vergessenheit geraten?“ Irgendwann sind andere Dinge wichtiger geworden, der Job, mehr Einfluss, mehr Geld für den Kredit. Das ewige „Jetzt. Nicht.“ wurde zu einem vagen Zukunftsversprechen und Walter zu einem Menschen, der ohne seine Arbeit orientierungslos ist. Ständig bewegt er sich durch die Nacht, steht in dunklen Räumen, liegt sein Gesicht im Schatten. Ein Getriebener ohne Ziel. Am Tag ist das Licht grau, so wie seine gesamte Welt kalt und farblos ist.
Diesen Walter Stein als vielschichtige Persönlichkeit wahrzunehmen, fällt schwer. Außer Floskeln („Ich verkaufe gerne Hoffnung“) hat er wenig zu sagen. Godehard Giese spielt mit undurchdringlichem Gesicht diesen Mann in der Krise, zuletzt gab er in „Liebmann“
(fd 44 441) einen traumatisierten Lehrer, im ersten „Tatort“ aus dem Schwarzwald sah man ihn als Vater, dessen Tochter tragisch ums Leben kommt. Auch Walter Stein ist ein Schmerzensmann. Die Pein ist zunächst der Verlust des Jobs, dann zunehmend eine Ahnung davon, was das Leben sonst noch alles zu bieten hat. Ein paar durchtanzte Stunden mit einer lebensfrohen Imbissverkäuferin, Verbrüderungsszenen mit unbekannten Männern könnten der Anfang von etwas sein. Doch das interessiert den Zuschauer kaum, weil es schwerfällt, für Walter so etwas wie Anteilnahme zu entwickeln. Die intendierte Kritik an einem System, in dem sich Menschen vor allem über ihre Arbeit definieren, versickert in der Geschichte eines begrenzt sympathischen Mannes, der einmal als „lächerlich“ bezeichnet wird. Wenn am Schluss recht programmatisch „Ich möchte ein Eisbär sein“ von Grauzone erklingt, weiß man, dass das ein zwiespältiger Wunsch ist. Denn ein Eisbär ist Walter Stein schon lange.