Animation | Japan 2016 | 130 Minuten

Regie: Naoko Yamada

Ein japanischer Schüler schießt mit seinen Mobbing-Attacken gegen ein gehörloses Mädchen übers Ziel hinaus und wird selbst zum gemiedenen Außenseiter. Erst als es fast zu spät ist, sucht er Kontakt zu der Mitschülerin. Das formal eher schlichte, erzählerisch aber umso ambitioniertere Anime zeichnet virtuos den japanischen Schulalltag nach, der von latenter Gewalt und der Angst vor Gesichtsverlust geprägt ist, wobei die Flucht in den Selbstmord fast zwangsläufig scheint. Eindrucksvoll genau beobachtet der Film, wie soziale Gewalt funktioniert und kanalisiert wird. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
KOE NO KATACHI
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Kyoto Animation/Pony Canyon/ABC Animation/Quaras/Shochiku Co./Kodansha
Regie
Naoko Yamada
Buch
Reiko Yoshida
Kamera
Kazuya Takao
Musik
Kensuke Ushio
Schnitt
Kengo Shigemura
Länge
130 Minuten
Kinostart
21.09.2017
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Animation | Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Kazé (16:9, 1.85:1, DD5.1 jap./dt.)
Verleih Blu-ray
Kazé (16:9, 1.85:1, dts-HDMA jap./dt.)
DVD kaufen

Ambitioniertes Anime über Gewalt im japanischen Schulalltag

Diskussion
In der Grundschule zählt Shoya eigentlich zu den Schülern, mit denen man gerne befreundet wäre. Schlank, hipp, lässig gekleidet, struwwelig frisiert: cool eben. Auch wenn der Junge gegenüber seinen Kumpeln schon mal ruppig ist. Das gehört dazu, wenn man Aufmerksamkeit erregen will. Das Mädchen Shoko hingegen muss für jeden Kontaktversuch ihren Schreibblock bemühen. Sie ist taub, und neu in Shoyas Klasse. Der nimmt ihren verhaltenen Freundschaftsantrag nicht ernst; er tut vielmehr alles, um der Mitschülerin das Leben auf dem Schulhof zur Hölle zu machen. Zunächst unter tatkräftiger Mithilfe seiner Klassenkameraden, landen Shokos Schreibhefte im nahen Stadtbach und ein ums andere Mal auch ihre teuren Hörgeräte. Als die Lage eskaliert, schaltet sich die Schulverwaltung ein. Von einem Moment auf den anderen wird Shoya selbst verwundbar. Die Lehrer wenden sich ab, die Kameraden, die ihm bislang den Rücken gestärkt haben, schneiden und mobben ihn, und seine alleinerziehende Mutter muss die letzten Ersparnisse abheben, um wenigstens den finanziellen Schaden bei Shokos Mutter begleichen zu können. Das Leben, wie es Shoya kannte, ist an ein Ende gekommen. Dem Regisseur Naoko Yamada liegt herkömmliches Geschichtenerzählen fern. Das Anime als Gattung ist ohnehin ein Hort für dramaturgische Experimente. In keiner anderen cineastischen Disziplin wird derart offensiv mit Andeutungen, Zeitsprüngen und Verschachtelungen gespielt wie im japanischen Animationsfilm. „A Silent Voice“ umfasst ein halbes Schulleben, zwei sich kreuzende Schicksale, die sich auf fatale Weise zu klonen scheinen, eine Tragödie epischen Ausmaßes im Kosmos eines Klassenzimmers, eine Geschichte, die keine Gewinner, sondern nur Verlierer kennt und dennoch wunderbarerweise in einer Art Versöhnung endet. So beginnt der Film mit einem Jungen, der die Möbel seines Zimmers verkauft, ein Bündel Geld ans Bett seiner schlafenden Mutter legt und wenig später auf dem Geländer der Stadtbrücke steht, um seinem sinnlos gewordenen Leben ein Ende zu setzen. Dazu kommt es aber nicht, weil der Film in einer Rückblende zunächst die Geschichte von Shoya und Shoko entfaltet, in der nach und nach Freundschaftsbande geknüpft und mutwillig wieder zerstört werden. Shoya wird zum Aussätzigen, der nur im Außenseiter Tomohiro einen Freund erkennt. Erst allmählich und unter vielen Schmerzen findet er in die Gemeinschaft zurück. „A Silent Voice“ entwirft ein komplexes Gesellschaftsbild, in dem sich die beiden Protagonisten nicht immer im Zentrum bewegen. Der Film etabliert vielmehr sechs Schüler als tragende Nebenrollen, die eigenständige, mehrfach gebrochenen Charakter darstellen. Es geht um soziale Ausgrenzung, die nicht am Schulhof endet. Und um den Alltag zweier zerrissener Familien im gegenwärtigen Japan, in dem intakte Familien eine Art verklärte Staatsdoktrin darstellen; auch um ein Erziehungssystem, das den Einzelnen übersieht. Yamada erzählt aber auch vom Zusammenraufen, vom offenen Austragen qualvoller Konflikten. Kinder sind grausam, sie können aber auch verzeihen. Schließlich rüttelt der Film nebenbei auch an einem Tabuthema: Selbstmord als anscheinend letzte, von einer ewig gestrigen japanischen Gesellschaft sanktionierte Lösung. „A Silent Voice“ sorgt für Aufsehen. Und zwar nicht, weil er in spektakulärem 3D mit wahnsinnigen Effekten daherkäme, sondern weil er sich 130 Minuten Zeit nimmt, um die Geschichte von außerordentlichen Freundschaften zu erzählen. Das macht er ebenso zärtlich wie schonungslos, wobei er Jugendlichen wie Erwachsenen gleichermaßen alles zwischen Staunen, Tränen und der Erkenntnis abverlangt, dass eine scheinbar behütete Kindheit auch eine erbärmliche Lüge sein kann. (Der Film läuft am 26.9.2017 als "Anime Night"-Kino-Event in zahlreichen deutschen Kinos)
Kommentar verfassen

Kommentieren