Am Anfang stehen zwei grundsätzliche Fragen, gefasst in Zitate: Sollte es ein Recht auf Migration geben? Ist es moralisch vertretbar oder sogar notwendig, die eigenen Landesgrenzen zu verteidigen, Migration zu begrenzen? Ebenfalls am Anfang stehen zwei Welten: Da ist auf der einen Seite der Zaun, auf dem Flüchtlinge sitzen, auf der anderen Seite der Golfplatz der spanischen Exklave Melilla – ein ebenso vielsagendes wie widersinniges Bild.
Der Weg des Filmemachers Jakob Preuss (geb. 1975) führt zunächst in den Wald jenseits des Zauns, dorthin, wo die Camps sind, in denen Flüchtlinge monate-, manchmal jahrelang warten, um über die stacheldrahtbewehrte Hürde zu kommen oder mit Schleusern über das Meer: ins gelobte Europa. Dort trifft Preuss Paul aus Kamerun – eine schicksalshafte Begegnung. Aus einem Dokumentarfilm, der laut Regisseur die innereuropäische Sicht zeigen sollte, wird die persönliche Geschichte eines Flüchtenden: „Als Paul über das Meer kam“.
Paul stellt Jakob andere Campierende vor, die ihre Sicht und ihre Flucht schildern. Eine Frau sagt, ihre Flucht sei gut gewesen: „Keine Probleme, keine Vergewaltigung.“ Preuss wartet mit Paul im Camp, spricht aber auch mit spanischen Grenzpolizisten auf der anderen Seite. Sein Gesprächspartner stellt unbequeme, reflektierte Fragen in den Raum: „Früher gab es den Zaun nicht. Was haben wir falsch gemacht?“ Paul blickt ähnlich reflektiert auf sich und seine eigene, aber auch die europäische Situation, stellt gezielte, komplexe Fragen. Später erfährt man, dass Paul in seiner Heimatstadt zwei Jahre lang Jura (wie auch Preuss) und Politik studiert hat, bis er wegen eines Streiks vom Studium ausgeschlossen wurde.
Der Film ist tagebuchartig nach zentralen Ereignissen an bestimmten Tagen strukturiert. So lässt sich der Verlauf der Zeit ablesen, insgesamt hat Preuss seinen Protagonisten über zwei Jahre hinweg begleitet. Die Überschriften der einzelnen Kapitel sind wesentliche Zitate der Beteiligten, die zunächst nicht zu erschließen sind, aber neugierig machen auf das, was kommt. Stationen auf Pauls Flucht, die vor die Begegnung datieren oder die Preuss nicht drehen konnte, werden durch gelungene Animationen visualisiert. Gelegentlich ist auch der Regisseur selbst zu sehen, agiert aber nicht bewusst vor der Kamera. Er kommentiert das Geschehen aus seiner Perspektive aus dem Off – wie auch Paul persönlich kommentiert. Manchmal treten diese Ausführungen, Haltungen, Vorstellungen und Erwartungen miteinander in Konflikt, was eine große Stärke des Films ist.
Nach einer traumatischen Erfahrung gelangt Paul nach Spanien. Preuss spürt ihn dort auf und gerät in ein moralisches Dilemma: Kann, soll, darf, muss er eingreifen? Die Distanz des Dokumentarfilmers zu seinem Protagonisten aufgeben, um Paul zu helfen, mit dem ihm inzwischen eine Freundschaft verbindet? Wie die Regisseurin Rokhsareh Ghaem Maghami in „Sonita“
(fd 43 927), die ihre Protagonistin vor der Zwangsverheiratung bewahrte, entscheidet sich auch Preuss für diesen Weg – und der Film nimmt eine entscheidende Wendung, wirft Fragen nach der Verantwortung des Einzelnen auf. Und er fragt den Zuschauer: Wie hättest du gehandelt? Besonders drängend und unmittelbar wird dies, als Preuss mit Paul abspricht, für einen Tag nicht zu helfen: Nun muss Paul, der mittlerweile in Preuss’ Heimatstadt Berlin ist, auf sich gestellt in eine andere Stadt gelangen, um seinen Asylantrag zu stellen. In dem Experiment werden beide zu Versuchskaninchen: auf der einen Seite der „typische“ Flüchtling, der sich im bürokratischen Dschungel kaum zurechtfindet, auf der anderen der „typische“ Deutsche, der zwar hin-, im entscheidenden Moment dann aber lieber wegschaut.
Auffällig wird an dieser Stelle, dass der Film sämtlichen Klischee-Fallen entgeht, was ihm durch permanente Reflexion und Offenheit gelingt, durch Antagonisten wie Schleierfahnder, Frontex-Mitarbeiter und Grenzpolizisten, die als solche nicht taugen, aber auch durch eine kluge, sachliche Montage sowie eine Kameraführung, die nicht einmal auf die Idee kommt, emotionale Momente auszuschlachten. Das Ende des Films ist dann überraschend und umso emotionaler, für alle Beteiligten.