Als Ödön von Horváth 1937 in einem Amsterdamer Exilverlag seinen Roman „Jugend ohne Gott“ veröffentlichte, sah er auf das Deutsche Reich „kalte Zeiten“ zukommen. Im bevorstehenden „Zeitalter der Fische“ hätten sich die Menschen mit seelischer Härte gepanzert, sich Bandagen aus Reg- und Mitleidlosigkeit angelegt. Man weiß, wohin diese Form der Gefühlskälte führte. Deshalb will die Pädagogik zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht nur über historische Zusammenhänge aufklären, sondern auch Empathie fördern und sich für die Gegenwart fragen: Wo tummeln sich heute Horváths Menschen mit den „hellen, runden Augen“, „ohne Schimmer, ohne Glanz“?
Will man Regisseur Alain Gsponer folgen, so regiert die Kaltherzigkeit besonders dort, wo der Zugang zur Bildung geregelt wird. Wie dieses Gut zukünftig verteilt wird und welches Menschenbild es weitergibt, daran misst sich für ihn die Gerechtigkeit einer Gesellschaft. So erstaunt es nicht, dass Gsponer die Handlung in eine nahe Zukunft verlegt und das vormilitärische Zeltlager in ein Camp zur Auslese der fünf Jahrgangsbesten verwandelt. Zach, Nadesch, Titus jedenfalls haben es vorerst geschafft. Sie dürfen mit ins Trainingslager fahren, wo sie um die Zulassung zur Elitenausbildung konkurrieren. Die Chancen der Schüler stünden gar nicht schlecht, wenn nicht einer der drei wegen eines verschwundenen Tagebuchs zu Tode käme und der Falsche von ihnen dafür die Verantwortung übernähme.
Zielsicher stößt die Verfilmung ins Zentrum von Horváths Roman vor, der weiterhin als Schullektüre empfohlen wird. Sie beginnt gleich mit dem Geschehen im Lager, schildert danach die Gerichtsverhandlung und die Ermittlung des wahren Täters. Reizvoll ist ihre Aktualisierung deshalb, weil sie den zeitgenössischen Hang, sich mit der Belegschaft auf einem Firmenausflug im Klettergarten zu beweisen und sportliche Höchstleistungen wie körperlich errungene Härte automatisch als Ausweis von Intelligenz, Führungsstärke und Teamtauglichkeit zu halten, einer geistfeindlichen historischen Tradition zuordnet. Ansonsten emotionalisiert der Film die Romanvorlage mit seichtem Klangteppich und schreibt sie eher wenig inspirierend in eine Dystopie um, durchmischt mit Elementen aus Adaptionen anderer jugendliterarischer Bestseller wie „Die Tribute von Panem“, „Maze Runner“ oder „Die 5. Welle“. Während diese konkrete, drastisch-brutale Szenarios auffahren, kommt die gnadenlose Auslese der Besten in „Jugend ohne Gott“ in softer Verpackung, mit Psychopharmaka und psychologischem Ratgeber-Idiom daher.
Dafür überzeugt die formale Anlage des Films: Erzählt Horváth seinen Roman chronologisch aus der Ich-Perspektive des Lehrers, bricht Gsponer dieses Schema auf. Und das gelingt ihm vorzüglich und abwechslungsreich. Zudem schildert er das Geschehen aus der Sicht der drei Schüler und setzt dafür Rückblenden ein, die die Wahrheit einem Detektiv gleich stückweise zusammensetzen. So steigert er nicht nur die Spannung und die Geschwindigkeit des Erzählflusses, sondern problematisiert auch die Position eines Ich-Erzählers, stärkt die der Polyphonie. Ein einzelner Erzähler nimmt manches nicht wahr, seine Erinnerung besitzt Lücken, mehrere Sichtweisen stellen im kleinen Maßstab strukturell eine demokratische Öffentlichkeit her, lassen den Zuschauer verschiedene Perspektiven einnehmen, die sich gegenseitig bestätigen, manchmal auch relativieren.
Gleichwohl geht die formale Entscheidung des Films auf Kosten von Horváths Erzählabsicht. Der Lehrer, der zunächst das totalitäre System stützt, bleibt blass. Horváth aber wollte sein neues Menschenbild anhand dessen individueller Entwicklung vermitteln, der Lehrer sollte Vorbild für die humane Gesellschaft sein. Dass sein Protagonist am Ende nach Afrika geht („Der Neger fährt zu den Negern“), wird in Gsponers Film zum sozialen Klassenkonflikt, zum Abstieg in die Schicht der Unterprivilegierten transformiert. Damit aber lässt er einen zentralen Punkt in der Ideologie des Nationalsozialismus aus: den Rassismus. Mutig wäre es gewesen, sich ihm zu widmen, spukt er doch aktuell in manchen Köpfen herum.