Die kleine Francisca führt zusammen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und den Kühen ein bescheidenes Leben in der waldreichen US-amerikanischen Provinz. Vor allem die religiös geprägten Geschichten, die die Mutter aus ihrem portugiesischen Elternhaus zu erzählen weiß, schlagen das Mädchen in den Bann. Ansonsten gibt es hier, in einem Landstrich, in dem der nächste Nachbar ein Auto braucht, um zu Besuch zu kommen, nicht viel Abwechslung.
„Einsamkeit kann seltsame Dinge mit deinen Gedanken machen“, hat Franciscas Mutter einmal gesagt. Wenige Stunden später fand sie ihr Mann ermordet in der Badewanne. Der Täter, ein Handlungsreisender namens Charlie, hatte bis dahin eigentlich einen ganz netten Eindruck gemacht – ehe er die Waffe aus seiner Jacke zog.
Nachdem der Vater die sterblichen Überreste der Mutter verscharrt hat, könnte der Alltag wieder Einzug halten. Wäre da nicht Charlie, der gefangen im Schuppen vor sich hin grölt. „Du musst dich darum kümmern!“ Franciscas Vater ist auch jetzt, da er mit seiner Tochter allein ist, nicht der Redseligste. Aber er hat Recht, und Francisca hat schon in jungen Jahren von ihrer Mutter gelernt, wie man operative Eingriffe an Kühen und anderen Lebewesen vornimmt. „Du wirst mich umbringen?“ – „Warum sollte ich? Du bist doch mein einziger Freund!“
Bis zu seiner Tötung wird es noch Jahre dauern, und auch ohne Zunge und Augen wird Charlie Franciscas Vater überleben und ihr einziger Gefährte bleiben. Auf dem Land kann man sich seine Freunde nicht aussuchen. Die wenigen anderen losen Bekanntschaften, die Francisca hier in der Abgeschiedenheit macht, sind nicht von Dauer. Sie enden mitunter ohnehin mit dem Ableben dessen, der sich in die Einsamkeit verirrt hat. Nachdem dann doch auch Charlie bei einem Fluchtversuch seinen Verletzungen erliegt, könnte das Treffen mit Lucy tatsächlich einen grundlegenderen Neuanfang markieren. Sie hat ein kleines Baby, und das wäre genau das Richtige, um dem inzwischen recht einsamen Haus einen neuen Statthalter zu bescheren.
Nicolas Pesce hat für sein Filmdebüt ein sehr wortkarges Drehbuch geschrieben. Als erzählerische Elemente nutzt er lieber die spartanische Musik von Ariel Loh und die Kamera des überragenden Bildkompositeurs Zach Kuperstein, der das Morbide der tristen Provinz in atemberaubend ruhige Schwarzweißbilder zu tauchen vermag. Mitunter wirken die so stark und suggestiv wie die Federzeichnungen von Alfred Kubin, mit denen der Illustrator den finsteren Geschichten von Dostojewski und Edgar Allan Poe eine kongeniale Aura verschaffte.
Die musikalischen Tableaus von Loh machen das Groteske und Monströse für den Moment des Schauens fast vergessen. Bis der Verstand des Zuschauers wieder die Oberhand gewinnt und die US-amerikanische Horrorstory erschreckt zu reflektieren beginnt. Eine Geschichte, die mysteriös mit einer auf einer Landstraße zusammenbrechenden Frau beginnt; eine Klammer, deren groteske Dimension sich erst zum Schluss eröffnet, wenn der Film mit den gleichen Einstellungen endet.
Was dazwischen geschieht, ist schwer zu fassen und mitunter schwer zu ertragen. Wie die Geschichten von Poe, der über Menschen in abgelegenen Provinzen erzählte, in deren Köpfen sich seltsamen Gedanken zu rational nicht fassbaren Taten formten. Auch hier war die Einsamkeit der denkbar schlechteste Ratgeber. Selten indes hat ein Film diese Erkenntnis eindrücklicher als „The Eyes of My Mother“ vor Augen geführt hat.