Ein Leben (2016)
Drama | Frankreich/Belgien 2016 | 119 Minuten
Regie: Stéphane Brizé
Filmdaten
- Originaltitel
- UNE VIE
- Produktionsland
- Frankreich/Belgien
- Produktionsjahr
- 2016
- Produktionsfirma
- TS Prod./France 3 Cinéma/Versus Prod./F comme Film/CN5 Prod.
- Regie
- Stéphane Brizé
- Buch
- Stéphane Brizé · Florence Vignon
- Kamera
- Antoine Héberlé
- Musik
- Olivier Baumont
- Schnitt
- Anne Klotz
- Darsteller
- Judith Chemla (Jeanne) · Jean-Pierre Darroussin (Baron) · Yolande Moreau (Baronin) · Swann Arlaud (Julien) · Nina Meurisse (Rosalie)
- Länge
- 119 Minuten
- Kinostart
- 24.05.2018
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Wendungsreiche Frauen-Leidensgeschichte im 19. Jahrhundert - eine stimmungsvolle Maupassant-Verfilmung von Stéphane Brizé.
Am Anfang glaubt Jeanne noch, das Schwerste liege hinter ihr. Mit 17 Jahren aus der Klosterschule ins elterliche Landgut in der Normandie zurückgekehrt, blickt sie schon bald mit mildem Erstaunen auf die strenge Disziplin der Einrichtung zurück. Jeanne ist in eine behütete Welt zurückgekehrt, die der französische Regisseur Stéphane Brizé in Miniaturen der Idylle andeutet: Der Vater, ein gut gestellter Landadliger, fühlt sich am wohlsten bei der Arbeit in seinem Garten, die Mutter beim Gesellschaftsspiel, die Tochter, wenn sie allein oder mit ihrer Kindheitsfreundin Wiesen, Hügel und Strand der näheren Umgebung aufsucht. Es bräuchte im Jahr 1819 nicht viel mehr zu ihrer Erfüllung, würde Jeanne nicht romantische Ideale hegen. Als ihr der mittellose Julien de Lamare vorgestellt wird, ist sie nach kurzer Zeit bereit für die Ehe, von der sie sich nicht weniger als die Vollendung ihres Glücks erwartet. Ein Trugbild: Anstatt ihr Leben vollkommen zu machen, folgt nach der Hochzeit ein Dasein der Enttäuschungen.
„Da wurde ihr klar, dass sie nichts mehr zu tun hatte, nie mehr etwas zu tun haben würde“, heißt es bitter im Debütroman „Ein Leben“ des französischen Schriftstellers Guy de Maupassant aus dem Jahr 1883 über die Protagonistin Jeanne Le Perthuis des Vauds. In seiner Adaption überträgt Stéphane Brizé Jeannes rasche Ernüchterung über ihre Ehe in eine Kette aus eindringlichen Demütigungsszenen: In der Hochzeitsnacht liegt ihr Mann wie ein stöhnender Klumpen Fleisch auf Jeanne; in ihrem düsteren, vom kalten Wind umtosten Haus muss sie sich mit Nähen die Zeit vertreiben, während Julien sie alleinlässt; in kurzer Zeit entlarvt sich ihr Gatte als knickerig, aufbrausend und zu alledem als untreu. Trotz aller Schwüre in dieser Beziehung unverbesserlich, kommt es zwangsläufig zu einer Tragödie, die Jeanne allein mit einem mittlerweile geborenen Sohn zurücklässt. Fortan gilt ihre ganze Liebe ihm, doch als Erwachsener wird er sie ebenso enttäuschen wie sein Vater.
Die wendungsreiche Frauen-Leidensgeschichte, die Maupassant erzählt, hat Brizé in ihren Stationen weitgehend beibehalten. In der Erzählweise und der formalen Gestaltung löst er sich jedoch auf bemerkenswerte Weise von der Vorlage: Statt die melodramatischen Höhepunkte auszukosten, zieht sich der Film gerade in solchen Momenten immer wieder zurück und deutet viele Entwicklungen sogar nur ansatzweise an. Auch enthält Brizé sich der „Schuldzuweisungen“, die im Roman mit Blick auf Jeannes Schicksal fallen – gegen ihre wohlwollenden, aber zu gutmütigen Eltern, vor allem aber gegen die Männer, die ihr Leid mit Gedankenlosigkeit und Selbstsucht beständig vergrößern, insbesondere ihr Gatte und ihr Sohn. Brizé und seine Co-Autorin Florence Vignon heben dafür das Allgemeingültige an Jeannes Leben noch mehr hervor als Maupassant: Den Zwiespalt zwischen beständigem Druck von außen und den gesellschaftlichen Fesseln, die ihr als Frau ihrer Zeit aufgebürdet sind. Auch erzählen sie ganz aus Jeannes Perspektive, wodurch sich die elliptische, achronologische Erzählweise allmählich als subjektiver Ausdruck ihrer Erinnerung erkennen lässt.
Garantin für das Gelingen dieses Ansatzes ist vor allem die Idealbesetzung der Hauptfigur: Der ätherischen Judith Chemla gelingt es, angesichts jedes Schicksalsschlags von Jeanne die ganze Härte des Leids spürbar zu machen, während sie in den wenigen Glücksmomenten ihrer Figur eine kindliche, ungebrochene Freude ausstrahlt. So hält sie eine Schwebehaltung aufrecht, die begreifbar macht, warum Jeanne nicht schlichtweg zerbricht, sondern weiterhin darum ringt, sich ihren Glauben an ihre Ideale nicht rauben zu lassen. Trotz allem bleibt die unüberwindliche Enge ihres Daseins, die Brizé betont, indem er den Film im strengen, heutzutage kaum noch gebrauchten 4:3-Format gedreht hat. Das ist als visueller Einfall ebenso grandios wie das Sound Design, das höchst subtil mit den Geräuschen von Wind, Regen, Wellen und prasselndem Feuer arbeitet, um die Isolation der Figuren zu verdeutlichen.
Ein gediegener Kostümfilm britischer oder amerikanischer Machart ist „Ein Leben“ also ganz und gar nicht, und auch mit der stilisierten Pracht der ersten Verfilmung des Romans durch Alexandre Astruc („Ein Frauenleben“, 1958 (fd 7421)) hat Stéphane Brizés eigenwillig-feinsinniger Film denkbar wenig gemein. Dagegen fügt sich der erste Versuch des Regisseurs mit einem historischen Stoff bemerkenswert stimmig in sein bisheriges Oeuvre ein: Wie in „Man muss mich nicht lieben“ (fd 37 715) und „Der Wert des Menschen“ (fd 43 775) erzählt er von Ungerechtigkeit, fehlerhafter Kommunikation und Defiziten im Umgang miteinander. Und Jeanne erscheint als einprägsame Vorgängerin von Brizés später geborenen Figuren mit ähnlich verschlossenem Wesen, die solche Zumutungen nicht nur erkennen, sondern sich auch nachdrücklich dagegen auflehnen.