Die Kinder des Fechters

Drama | Finnland/Estland/Deutschland 2015 | 94 Minuten

Regie: Klaus Härö

Ein ehemaliger Wehrmachtsangehöriger taucht in den 1950er-Jahren auf der Flucht vor Stalins Geheimpolizei als Sportlehrer in einer estnischen Schule unter. In seiner Freizeit bringt er den Schülern das Fechten bei, was als „bourgeoise“ Sportart kritisch beäugt wird. Der Film vereint Elemente des Schul-Dramas, Historien- und Sportfilms und stellt ästhetisch pointiert den Fechtsport in seinem Widerstandspotenzial dar. Dabei weicht er einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Wechselfällen der estnischen Geschichte eher aus und gleitet über die Untiefen des Protagonisten hinweg. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MIEKKAILIJA
Produktionsland
Finnland/Estland/Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Making Movies/Allfilm/Kick Film/BR/arte/YLE/ERR
Regie
Klaus Härö
Buch
Anna Heinämaa
Kamera
Tuomo Hutri
Musik
Gert Wilden jr.
Schnitt
Tambet Tasuja · Ueli Christen
Darsteller
Märt Avandi (Endel) · Ursula Ratasepp (Kadri) · Lembit Ulfsak (Großvater) · Liisa Koppel (Marta) · Joonas Koff (Jaan)
Länge
94 Minuten
Kinostart
17.12.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Sportfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Zorro
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Ein Lehrer taucht Anfang der 1950er-Jahre in einer estnischen Schule als Fechtlehrer unter, um den stalinistischen Häschern zu entgehen. Regie: Klaus Härö

Diskussion
Anfang der 1950er-Jahre taucht der Fechter Endel Nelis in einer kleinstädtischen Schule in Estland als Sportlehrer unter. Die stalinistischen Säuberungen haben in diesem ärmlichen Landstrich eingeschüchterte Menschen hinterlassen, obwohl die Freiheit in Gestalt der malerischen Weite des grenzenlosen Meeres direkt vor ihren Augen liegt. Die Bewohner wissen, dass sie auf den als demokratisch inszenierten Veranstaltungen mit ihren Ansichten besser hinter dem Berg halten. Denn ihr Gehorsam gegenüber der Partei wird vom Leiter der örtlichen Bildungsinstitution genauestens registriert. So konfrontiert der misstrauische Direktor den jungen Nelis sogleich mit den Forderungen und Zwängen des sozialistischen Bildungssystems. Da die Erziehung der Schüler auch deren Freizeitgestaltung umfasst, soll er einen zusätzlichen Kurs abhalten. Wie aber reagiert der junge Sportlehrer darauf, dass sein Plan, eine Ski-AG anzubieten, abgelehnt wird? Als Nelis die Schärfe und Biegsamkeit eines im Schrank der Turnhalle vergessenen Floretts überprüft hat, beginnt er mit tänzerischer Verve immer härtere Attacken gegen einen imaginären Feind, verkörpert im weißen Brustschutz, zu führen. Die Schülerin Marta beobachtet ihn und möchte von ihm das Fechten erlernen. Es bleibt nicht bei einer Schülerin. Regisseur Klaus Härö hat in „Die Kinder des Fechters“ viele Geschichten und Genres verwoben. Der Film ist eine Entwicklungs- und Liebesgeschichte und nimmt Elemente des Schuldramas, des Historien- und Sportfilms in sich auf. Härö, der 2003 mit seinen Kinderfilm „Elina“ (fd 37 264) bei der „Berlinale“ einen „Gläsernen Bären“ gewann, will dabei „die Rolle von Erwachsenen im Leben von Kindern“ ausleuchten. Mit der Schule hat er dafür einen aussagekräftigen Schauplatz gewählt. An diesem Ort werden junge Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten und kulturellen Milieus sozialisiert. Indem sich Schüler und Lehrer täglich begegnen, offenbaren sich rasch Entwicklungsdefizite und Reibungspunkte. Es sind allerdings die Kinder, welche den Wandel des Lehrers anstoßen und dessen Verantwortung und Fürsorge als Erziehungsperson beanspruchen. Sie fordern Nelis’ Auseinandersetzung mit sich selbst heraus, aber auch mit Erziehungsprinzipien und Wertmaßstäben, Macht und Autorität. Damit stellen sich aber zugleich auch Fragen nach Individualität und den Regeln des sozialen Zusammenhaltes; im Handeln der künftigen Generation scheint zugleich auch die Utopie einer neuen Gesellschaft auf. Allerdings scheint es nicht das Anliegen des Regisseurs zu sein, das Zusammenwachsen von Schülern und Lehrer zu einem Team mit all seiner Vielschichtigkeit realistisch einzufangen und die Figuren mit Tiefe auszustatten. Stattdessen gleitet der Film hier über alle Schwierigkeiten hinweg, indem jeglichem Konflikt aus Sorge um das Wohlergehen der Schüler aus dem Weg gegangen wird. Der Lehrer bleibt als Charakter blass, wie auch seine Freundin, als deren Hauptmerkmal lediglich ein stets gewinnendes Lächeln in Erinnerung bleibt. Die so entstehende unwirkliche Atmosphäre und der letztlich naive Ton lullt auch die Auseinandersetzung mit der estnischen Geschichte ein, obzwar die Vergangenheit lange Schatten auf die gegenwärtige Gesellschaft wirft. Auf diese Weise erzählt der Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, auch von einem Land, das in den 1940er-Jahren, nach einer kurzen Phase der Selbständigkeit, mehrfach von Ländern besetzt wurde, von der Sowjetunion und Nazi-Deutschland. Welchem Land dabei die Rolle des Befreiers zukam, entzweit die Geister in Estland bis heute. Der Film indes positioniert sich klar. Sein Sympathieträger, dessen heroische Schönheit in Großaufnahmen zu studieren ist, wurde als 18-Jähriger von den Nationalsozialisten eingezogen und floh, als die Sowjets das zweite Mal einmarschierten. Aus der Perspektive der Machthaber ist der junge Mann als ehemaliger Wehrmachtsoldat ein Kollaborateur, weshalb ihn die Geheimpolizei verfolgt. Aber der Film durchleuchtet nicht Nelis’ Vergangenheit, von der eine kritische Aufarbeitung der estnischen Selbstverstrickung hätte ausgehen können. Die Aufdeckung von Nelis’ Identität dient lediglich dazu, mit wenigen Bildern zu demonstrieren, wie die Handlanger des aktuellen politischen Regimes vorgehen: sie argwöhnen, notieren peinlich genau, nutzen Archive und kommen nachts, um widerständige Bürger abzuholen, die trotzdem ihre Würde bewahren können. Ihnen und ihren Methoden sagt der Film im Sinnbild des als „bourgeois“ verdammten Fechtens ästhetisch den Kampf an. Denn beim Fechten treten zwei Individuen wie in einem Duell gegeneinander an: kraftvoll, anmutig, regelgeleitet und mit einem Gespür für die richtige Distanz. Der Film setzt den harmonischen Bewegungsablauf, die Anmut des Sports, die zugleich eine stilvolle, das Schöne aufsuchende Lebenshaltung repräsentieren soll, mit einer sorgfältigen montierten Choreografie, mit dem Einsatz von Zeitlupe und mit einer ausgefeilten Lichtführung, ins Bild. Auf diese Weise kann der estnische David, in der Figur der kleinen Schülerin Marta, den russischen Goliath besiegen.

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