Arndt von Bohlen und Halbach (1938-1986) war der einzige Erbe des Krupp-Konzerns, der als schillernder Paradiesvogel und „reichster Frührentner Deutschlands“ die Regenbogenpresse der Nachkriegszeit beschäftigte. In einer höchst unterhaltsamen Mischung aus Fiktion und Dokument zeichnet der Dokumentarfilm das eindringliche Porträt des bekennenden Homosexuellen, der 1966 auf sein Erbe verzichtete und dafür eine Jahresrente von zwei Mio. D-Mark erhielt. Interviews mit Weggefährten und rudimentäres Archivmaterial werden in einer fiktiven Spielfilmhandlung von Schauspielern, die Szenen aus von Bohlens Jet-Set-Leben nachstellen, mit viel Spiellaune nach Originalzitaten zum Leben erweckt.
- Ab 14.
Herr von Bohlen
Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 90 Minuten
Regie: André Schäfer
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2015
- Produktionsfirma
- Florianfilm/cine plus Filmprod./ZDF/WDR
- Regie
- André Schäfer
- Buch
- André Schäfer
- Kamera
- Andy Lehmann
- Musik
- Ritchie Staringer
- Schnitt
- Fritz Busse
- Darsteller
- Arnd Klawitter (Arndt von Bohlen und Halbach) · Arne Gottschling (Arnds Liebhaber) · Markus Augé (Barkeeper) · André Schäfer (Regisseur) · Jonas Niewianda (Kameramann)
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- 19.11.2015
- Fsk
- ab 0 (DVD)
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Illustres Doku-Drama über den "letzten Krupp" von André Schäfer
Diskussion
Sein Urgroßvater Fritz, das berichtet Arndt von Bohlen und Halbach nicht ohne Stolz, habe sich in den letzten Lebensjahren auf Capri mit italienischen Jünglingen verlustiert. Das Ausschweifende und ja, auch das Homosexuelle, liege also doch irgendwie in der Familie der ach so preußischen Familie Krupp – aus der er, Arndt von Bohlen, verstoßen wurde.
Von Bohlen war eine schillernde Figur der Nachkriegszeit, an der sich viel über diese Zeit, das Wirtschaftswunder, deutsche Tugenden und den Bruch mit der Generation der Väter ablesen lässt. Da sich gerade dieses Schillern in einer rein dokumentarischen Erzählung nur schwer einfangen lässt, hat Regisseur André Schäfer zu einem Trick gegriffen und die „Hauptrolle“ mit dem Schauspieler Arnd Klawitter besetzt. Schäfer macht sein Vorgehen eingangs in einer Art „Making of“-Sequenz sogleich transparent. Der Zuschauer wird Zeuge einer Casting-Situation und entscheidet gewissermaßen mit, nachdem er zuvor den echten Arndt von Bohlen in einem Archiv-Ausschnitt gesehen hat: Ja, Klawitter scheint der richtige Kandidat zu sein; er hüllt sich ganz selbstverständlich in den ausufernden Pelzmantel, spielt nicht zu wenig und nicht zu viel.
Klawitter führt als 40-jähriger Arndt von Bohlen sodann einen fiktiven Reporter durch das Jahr 1978. Er spricht den Reporter dabei direkt an, blickt in die Kamera und kokettiert mit ihr. In diesem Vexierspiel irritiert – vermutlich vor allem deshalb, weil die Ausgangslage bekannt ist – die ironisch-sarkastische Distanz, die Süffisanz, mit der Klawitter die Originalzitate gelegentlich ausstattet. Man fragt sich unwillkürlich, ob dies die Distanz Arndt von Bohlens zur Kamera, respektive zur Gesellschaft ist, die der Schauspieler spielt, oder ob nicht vielmehr der Schauspieler auf Distanz zur Figur, zur Rolle geht?
Doch abgesehen von diesem Irritationsmoment, funktioniert die Mischform – origineller Weise vor allem deshalb, weil der Zuschauer zuvor zum Komplizen der Form gemacht wurde. Er hat ja sogar bei der Auswahl der Schauspieler „mitentschieden“ – und weiß genau, bei welchen Sequenzen es sich um Fiktion und wo es sich um Dokument handelt. Virtuos kombiniert Schäfer zu den inszenierten Szenen Interviews mit Wegbegleitern – wie zuvorderst mit dem treuen Nachlassverwalter Holger Lippert – und echtes Archivmaterial. Das oft an Originalschauplätzen re-inszenierte Material imitiert dabei den Look des authentischen Materials.
Die Presse machte damals Stimmung gegen Arndt von Bohlen als „jüngsten Frührentner Deutschlands“. Tatsächlich bekam er zwei Millionen D-Mark im Jahr und diverse Besitztümer der Familie: die Villa in Marrakesch, Wohnungen in München und New York, Residenzen in Essen und auf Sylt, Schloss Blühnbach im Salzburger Land, auf dem er zeitweilig residierte. Eine „Rente“ war das deshalb, weil Arndt von Bohlen, „der letzte Krupp“, auf sein Erbe verzichtete. Sein Vater Alfred Krupp von Bohlen und Halbach konnte auf diese Weise das kriselnde Unternehmen in eine Stiftung umwandeln – und nebenbei die Erbschaftssteuer umgehen. Auf 3,5 Milliarden D-Mark und den Firmenvorsitz hätte sich das Erbe belaufen – und den Namen Krupp hätte Arndt ebenfalls führen dürfen, ein kaiserliches Privileg. Der Vater Alfred hatte den Sohn einst wohl durchaus für die Führung des Konzerns vorgesehen, dann aber seine Meinung geändert, vermutlich auch unter dem Einfluss des charismatischen Generalbevollmächtigten Berthold Beitz.
Vor diesem – der zunächst wie ein zweiter Vater für ihn war – floh Arndt von Bohlen dann zeitlebens. Anschaulich berichtet das Wirtsehepaar der „Grünen Gans“, seines Münchner Promi-Restaurants, wie er sich durch die Hintertür davonmachte, wenn Beitz das Lokal betrat.
Die Münchner Schickeria, der internationale Jet-Set, Industriegeschichte, familiäre Verwerfungen, die Heirat mit einer verarmten Adligen, ein offen homosexuelles Leben im Luxus: Dokument und Fiktion, leidenschaftlich ausgestattet und kostümiert, bereichern sich hier gegenseitig. Selbst für diejenigen, die gar nicht mehr wissen, wer Arndt von Bohlen war, gibt der Film einen Blick frei auf ein – schillerndes – Zeitbild frei.
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