L'Chaim! - Auf das Leben!

Dokumentarfilm | Deutschland 2014 | 89 Minuten

Regie: Elkan Spiller

Dokumentarisches Porträt des wild-bewegten Lebens von Chaim Lubelski, einem Nachfahren von Holocaust-Überlebenden, der als Hippie in der Negev-Wüste lebte, mit Drogen dealte, in Saint Tropez als Schachspieler bewundert und in New York als Geschäftsmann reich wurde, ehe er sich als Mittsechziger in Holland ganz der Pflege seiner alten Mutter widmete. Die über sieben Jahre gedrehte Langzeitstudie zeichnet das bewegte Porträt einer facettenreichen, sarkastisch-melancholischen Persönlichkeit, die in keinen Rahmen passt. Daneben geht es auch um die Paradoxien religiöser Freiheit zwischen Selbstfindung und Hingabe sowie einen angemessenen Umgang mit den Erinnerungen. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
L'CHAIM: TO LIFE!
Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Elkan Spiller Film Production
Regie
Elkan Spiller
Kamera
Virginie St. Martin · Ron Ramirez · Guillaume Vandenberghe · Raphael Kolacz · Simon Arazi
Musik
Michael Benhayon
Schnitt
Günter Heinzel
Länge
89 Minuten
Kinostart
27.08.2015
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
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Verleih DVD
mindjazz
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Dokumentarisches Porträt eines unangepassten Juden

Diskussion
Ein bärtiger Mann im olivgrünen Kampfanzug mit einer Mütze à la Fidel Castro fährt über die verregnete Autobahn. Irgendwo in Holland, nahe der belgischen Grenze, sucht er einen Coffee-Shop. Dort kauft er Haschisch. Dope zu rauchen hilft ihm, seine Ruhe zu finden, sagt er. „Ein alter Mann muss in den Coffee-Shop gehen, weil er keine Kontakte mehr hat, das ist herabwürdigend“, sagt Chaim mit freundlich verschmitzten Sarkasmus; früher habe er selbst gedealt, heute konsumiere er nur noch, das sei der Lauf der Welt. „Früher“, das ist ein weites Feld bei dem Mittsechziger. Chaim hat seine Rebellion gelebt, in seinen wilden Jahren, den befreienden Zeiten, „weg vom Leid...“ Er war Hippie in der israelischen Negev-Wüste, professioneller und von vielen bewunderter Schachspieler in Saint Tropez; in New York wurde er steinreich, als er US-amerikanische Jeans nach Deutschland exportierte, verlor alles Geld dann aber wieder bei Börsenspekulationen. Überdies ist er orthodoxer Jude, der sich mit bekannten jüdischen Theologen in Antwerpen und Israel austauscht. Seine Ruhe habe er nie gefunden und das, so Chaim, sei in seiner Familiengeschichte begründet: „Diese Liebe, die mir meine Eltern gegeben haben, die war verbunden mit Blut, mit Traurigkeit, von deren Eltern, vom jüdischen Volk, den Pogromen.“ Der Film beginnt, nachdem Chaim schon zu seiner Mutter in deren kleine Wohnung in der Seniorenresidenz gezogen ist. Er kümmert sich rührend um die alte Dame, die immer wieder von ihren Erinnerungen an den Holocaust erschüttert wird, an den Tod der Eltern in Auschwitz und ihre eigene Zeit im Lager. Andererseits ist Chaims Mutter eine geistig vitale, humorvolle Frau, die mit sarkastischem Humor ihr eigenes Schicksal reflektieren kann. Der Film zeigt die kleinen freundlichen Sticheleien zwischen Mutter und Sohn, etwa über Chaims abgenutzte Kleidung oder die Erinnerungen der Mutter: „Mutter lass’ und iss’, im KZ hast du nicht gegessen, dann iss’ wenigstens jetzt, dann kannst Du vom KZ sprechen.“ Es geht aber auch um den alten Familienkonflikt, als der, so die Mutter, „schöne Junge“ rebellisch und „eine Schlampe wurde“, verschwand und sich von der Familie und der langen Tradition des Leides zu lösen versuchte, als Hippie, Geschäftsmann oder Schachspieler. „L’Chaim – Auf das Leben!“, lautet der hebräische Trinkspruch, und Chaim ist der Sohn von zwei KZ-Überlebenden, das schwarze Schaf der Familie, das die Eltern bis zum Ende ihres Lebens pflegt. Die Hauptfigur ist dabei so facettenreich, dass sie alle gängigen Rollenerwartungen sprengt, auch den Rahmen jeder kleinkarierten Handbuchpsychologie: unorthodoxer Rebell und orthodoxer Jude, ein gebrochener Mann, aber trotzdem stark und gelassen in seiner notorischen Unruhe; auf dieser Welt sei ihm nichts mehr wichtig, sagt Chaim, „alles vergänglich, alles Bluff.“ Er ist frei und opfert alle Freiheit aus Liebe zu seiner Mutter. So verkörpert er letztendlich das Paradox der Freiheit in der Religion und der Selbstfindung, die in der Selbstentfremdung liegt. „L’Chaim – Auf das Leben!“ ist das Resultat einer siebenjährigen Langzeitbeobachtung, mit dem Elkan Spiller ein wunderbarer Dokumentarfilm über seinen Vetter und seine Tante, einen alten Sohn und seine noch ältere Mutter, gelungen ist. Es ist das Porträt eines sehr ungewöhnlichen Charakters, der sich selbst mit schwarzem Sarkasmus, einer trotzigen Melancholie und tiefer Menschlichkeit präsentiert. Es ist auch ein Porträt der Kinder von Holocaust-Überlebenden und eine Reflexion über den Sinn des Lebens, über die so schöne, aber oft so schwierige Lust am Leben schlechthin. „L’Chaim – Auf das Leben!“ ist aber auch ein Film über den Umgang mit den Erinnerungen, über Menschen, die trotz ihrer und mit ihren Erinnerungen einen Platz im Leben suchen. In seiner Schlichtheit ist der Film auch ein Gegenstück zu all den historischen Kostümfilmen und geschwätzigen Zeitzeugen-Potpourris, mit denen die NS-Vergangenheit Teil einer dynamischen Unterhaltungsindustrie geworden ist. Letztendlich ist diese wunderbare und unkonventionelle Lebensgeschichte aber auch ein Armutszeugnis für die zwischen altbackener politischer Korrektheit und Quotenbewusstsein vernagelte Förderpolitik: Der Film hat von keinem Fernsehsender Förderung erhalten. Wegen der beiden starken Hauptfiguren habe das Projekt, so Spiller, zwar immer wieder großes Interesse bei den Redaktionen erregt, sei aber letztendlich daran gescheitert, „dass es als Holocaust-Film angesehen wurde“. Davon wollten die Sender nicht noch einen weiteren machen.
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