Den kleinen Bruder wecken, das Bettsofa im Wohnzimmer wieder einklappen, Frühstück richten, zur Eile mahnen und nochmal nach dem Pausenbrot fragen, bevor es in den Kindergarten geht: Die Abläufe sind so routiniert, dass auch ohne Erläuterung klar ist, dass die 16-jährige Aylin für ihren kleinen Bruder die Erziehungsverantwortung übernehmen muss. Die Mutter ist verstorben, der Vater den ganzen Tag unterwegs: Als Tagelöhner weiß er nie, wann, wo und wie lange er arbeiten wird, sein Stundenlohn grenzt meist an Ausbeutung.
Lichtblicke scheinen in Aylins Leben nicht vorzukommen. Zuhause erwartet sie nur Tristesse, in der Schule die Schikane ihrer Mitschüler. Als sich ihre Wut und Frustration schließlich in heftigen Schlägen gegen ihre schlimmste Peinigerin entladen, wird Aylin zur Ableistung von Sozialstunden verurteilt – ausgerechnet auf einem Reiterhof, wo das Stadtkind zunächst fehl am Platz wirkt und genauso wenig willkommen scheint wie überall sonst. Doch zum Islandpferd Hördur baut Aylin eine Verbindung auf und entwickelt den Ehrgeiz, reiten zu lernen. Zum ersten Mal seit langer Zeit macht sie endlich wieder die Erfahrung, etwas gut zu können. Und sie spürt, welchen Unterschied es macht, wenn jemand an einen glaubt. Vielleicht wäre „Aylin“ als Filmtitel das schlechtere Zugpferd, aber letztlich treffender gewesen. Denn die Entscheidung, den Film nach dem Pferd zu benennen, weckt ebenso wie das Plakatmotiv Genreerwartungen, die nicht richtig einlöst werden: Zwar spielt Reiten eine wichtige Rolle, Pferd Hördur jedoch ist vor allem ein Katalysator für die Veränderungen in Aylins Leben. Hördur selbst muss weder gerettet noch langsam gezähmt werden, seine Eigenheiten als Pferd beeinflussen die Geschichte nur marginal. Wer also „Ostwind mit Migrationshintergrund“ erwartet, wird je nach Filmvorlieben entweder enttäuscht oder positiv überrascht werden. Letzteres dann, wenn man der ewigen Sommerferienästhetik überdrüssig ist, in der ein paar Probleme nur notdürftig verdecken, in welch überaus unbeschwerter Welt wir doch alle leben. Zugegeben: Einige Feel-Good-Momente mehr hätten „Hördur“ ganz gut getan. Bisweilen drückt der Film etwas zu stark auf die Tränendrüse und kommt ein bisschen zu bedeutungsschwanger und melodramatisch daher; aber gerade in der Figurenzeichnung der Protagonisten entwickelt er eine geradezu unheimliche Authentizität. Mit großer Glaubwürdigkeit vermittelt Almila Bagriacik das beengende und beängstigende Gefühl Aylins, dass ihre Umwelt nur ihr Scheitern erwartet und ihr Leben auf die Perspektivlosigkeit zusteuert, in der ihr zunehmend verzweifelnder Vater schon gefangen scheint. Ekrem Ergün nimmt sich in seinem Spielfilmdebüt ausreichend Zeit, die Gefühlslagen der Figuren und die kleinen Veränderungen in den Beziehungen zu erzählen, ohne alles sofort verbalisieren und erklären zu müssen. Situationen werden langsam aufgebaut und bisweilen auch überraschend aufgelöst. Dieser feinfühligen Inszenierung und der großartigen Schauspielführung ist zu verdanken, dass „Hördur“ nicht als überfrachteter Problemfilm, sondern als berührendes Coming-of-Age-Drama in Erinnerung bleibt.