Manchmal kann aus einem Hoffnungsschimmer ein dunkler Abgrund erwachsen. Wenn jungen Mädchen ausgerechnet der Gang zur Schule zum Verhängnis wird, zum ersten Schritt Richtung Zwangsheirat, dann erschüttert das jede Vorstellung von Gleichberechtigung. Der systematischen Verschleppung von 276 Schulmädchen, wie sie die Terrorgruppe Boko Haram 2014 in Nigeria verübte, stellt Zeresenay Meharis Spielfilm eine individuelle Entführung entgegen – ebenfalls nach einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1996, aber nicht unter dem Banner des Terrors, sondern im Namen einer äthiopischen Tradition.
Karg, aber schön in seiner weltabgewandten Ruhe inszeniert Mehari seine Heimat, die vom wolkenverhangenen Himmel beschattete, steinige Steppe im Hinterland von Addis Abeba. Unter diesem Himmel wird die stille Hirut nach der Schule von einer Gruppe berittener Dorfbewohner verschleppt, eingesperrt, geschlagen, vergewaltigt und mit dem Versprechen „beruhigt“, dass ihr Hauptpeiniger sie zur Frau nehmen will. Doch Hirut wehrt sich mit einem Fluchtversuch, an dessen Ende sie mit einem Gewehr in der Hand und einem Toten zu ihren Füßen aufgegriffen wird. Das Mädchen soll für die Ermordung ihres „zukünftigen Ehemannes“ sterben, so wollen es die Vertreter des Gesetzes sowie die Familie des Getöteten. Dass Hirut den Mann aus Notwehr erschoss und trotz ihres Größe erst 14 Jahre alt ist, wird von allen negiert.
Das Unrecht ist groß und somit der Moment gekommen, in dem die parallel aufgerollte Geschichte der Anwältin Meaza Ashenafi von der Frauenrechtsorganisation EWLA mit dem Schicksal der Bauerntochter verknüpft wird. Meaza erreicht eine vorläufige Entlassung des misshandelten Kindes und nimmt es bis zum Gerichtsverfahren bei sich auf – zurück kann Hirut nicht mehr, nachdem der Rat der Dorfältesten ihre Verbannung beschlossen hat.
Meaza bestreitet einen Kampf gegen Windmühlen, der mit seinen klaren Gut-Böse-Schemata nicht unbedingt zur differenzierten Analyse jener Verhältnisse beiträgt, die Hiruts Fall in Äthiopien zu einem juristischen Präzedenzfall machten. Figurenzeichnungen wie die des perfiden Staatsanwalts schreiben Sympathien fest, während der aufdringliche Musikeinsatz die Emotionen manipuliert.
„Das Mädchen Hirut“ wäre damit ein engagiert in der Landessprache realisierter, aber auch etwas blauäugiger „Botschafts“-Film, wenn er nicht auch Szenen besäße, die das Festkrallen an überkommenen Traditionen als Reaktion einer empfundenen Benachteiligung gegenüber den sich liberalisierenden Städtern nachzeichnen würde. Bei einer Versammlung der Dorfmänner wird der Lehrer aus der Stadt als schädlicher Eindringling gebrandmarkt, der die Mädchen gegen ihre Männer und Väter aufbringe. Nicht auf Bildung als Chance für die Frauen, sondern auf die Tradition der „Telefa“ als Festschreibung männlicher Besitzansprüche wird gepocht, nach der man Mädchen mit Entführung und Vergewaltigung „in Besitz nehmen“ darf.
Der äthiopischen Low-Budget-Produktion mag es zwar mitunter an inszenatorischem Feingefühl fehlen, nicht aber an der genauen Schilderung der vielen kleinen Rädchen, die das Uhrwerk aus Repression und Perspektivlosigkeit antreiben: die stillschweigend akzeptierte, perfide Berechnung, dass eine Vergewaltigung die „Auserwählte“ für den Heiratsmarkt unbrauchbar und für die Familie zur Schande macht; die gesellschaftlichen Auswirkungen, wenn aufgeschlossene Väter wie der von Hirut erst alle Hoffnung auf Bildung setzen, den Töchtern aus Sorge um ihr körperliches Wohn diese dann aber doch verweigern. Und nicht zuletzt die Aneignung des patriarchalischen Systems durch die Frauen selbst, durch Hiruts ungebildete Mutter, die das Unglück ebenfalls in der Schule verortet, bevor sie und ihr Mann die unter Zeitdruck stehende Meaza bei deren Besuch drängen, doch zum Essen zu bleiben, da es die Tradition so will. Dass ihre misshandelte Tochter umso länger im Gefängnis ausharren muss, tritt dabei in den Hintergrund. Die kulturellen Zwänge aber schieben sich in diesen beiläufigen Szenen ganz nach vorne.