Wenn man den betagten Damen so zuhört, könnte man meinen, sie hätten unlängst einer Vorführung von „Die Nacht der lebenden Toten“
(fd 17 343) beigewohnt und den Film noch nicht ganz verarbeitet. Da ist von Untoten die Rede, die nächtens in langer Reihe über die Berge ziehen, wer ihnen zu nahe komme, müsse alsbald mit seinem eigenen Ableben rechnen. Doch die allermeisten Protagonisten dürften George A. Romeros Horror-Klassiker aus dem Jahre 1968 wohl nie gesehen haben. Beim sogenannten „Gratzug“ im Schweizerischen Kanton Wallis handelt es sich der Sage nach um die Prozession der Seelen von Verstorbenen, die zur Buße noch eine Weile auf Erden umherwandern müssen, bevor sie endlich ihren ewigen Frieden finden.
Zwar können sich selbst die ältesten Dorfbewohner nicht daran erinnern, einem solchen Gratzug je persönlich begegnet zu sein, schwören aber, dass ihren Eltern und Großeltern solche Erlebnisse zuteil geworden seien. Zumindest hätten diese ihnen davon berichtet. Ein Mann, der sich viel mit diesen Erzählungen beschäftigt, räumt ein, dass diese früher vermutlich auch dazu dienten, um die langen Wintermonate ohne Radio und Fernsehen etwas unterhaltsamer zu gestalten.
Die Dokumentation, die die Protagonisten in ruhigen Einstellungen und breitestem Dialekt über ihre „Erlebnisse“ aus dem Zwischenreich von Leben und Tod erzählen lässt, will diese Legenden aber keineswegs als alberne Spuk-Geschichten denunzieren. Vielmehr bemüht sich die Regisseurin Fabienne Mathier, einer regionalen Form von Spiritualität auf die Spur zu kommen. Denn in der Tat scheinen viele Bewohner des ländlichen Wallis einen besonderen Draht zum Übersinnlichen zu haben. Da hören Witwen nachts ihre verstorbenen Gatten im Haus herumgehen, und eine Mutter verspürte just in dem Moment einen stechenden Schmerz in der Schulter, als einer ihrer Söhne fernab der Heimat tödlich verunglückte. Wieder andere berichten von Lampen und Fernsehern, die sich auf wundersame Weise von selbst einschalten. Und eine junge Frau namens Conny behauptet von sich, als Medium zwischen Lebenden und Toten vermitteln zu können.
Die wundersamen Erzählungen werden von pittoresken Panoramen der verschneiten Bergwelt rund ums Matterhorn unterbrochen. Als eine Art dramaturgischer Faden fungiert ein Mädchen, das für die Schule Erzählungen über den Gratzug in Erfahrung bringen soll. Ein eher misslungener Kniff, da er die junge Protagonistin und die von ihr Befragten unweigerlich zu Schauspielern macht, was sich aufgesetzt bis hölzern ausnimmt. Für den Film spricht indes seine ethnologische, keineswegs esoterische Erzählhaltung. Die lässt mitunter durchaus Raum für Humor. Als während der Dreharbeiten plötzlich der Strom ausfällt, sorgt das Malheur bei den Beteiligten für schallendes Gelächter.