Mexiko ist ein vielfältiges Land, mit zahlreichen Völkern und Sprachen. Die Zapoteken sind eines der ältesten. In einem kleinen Bergdorf in Südmexiko leben überwiegend Zapoteken von der bescheidenen Landwirtschaft; große Perspektiven existieren hier nicht. Der 16-jährige Mateo aber träumt davon, das Dorf zu verlassen und viel Geld zu verdienen, weiter oben, im Norden. Synonym für alle Hoffnungen vom wirtschaftlichen Aufstieg ist die Metropole Los Angeles. Der illegale Grenzübertritt in die USA ist aber nur mit Hilfe teurer Schlepperbanden zu bewerkstelligen. Mateo sucht deshalb Anschluss an eine örtliche Gang, deren Netzwerk bis in die USA reicht. Er muss sich mehreren Mutproben unterziehen und macht seine ersten kleinkriminellen Erfahrungen; doch als er einen Menschen töten soll, zieht er sich zurück. Das aber verzeiht ihm die Gang nicht, die fortan auf Rache sinnt.
„Los Ángeles“ entwickelt sich über starke Gegensätze: Die armselige Wirklichkeit des Dorfes gegen die Metropole, die unbegrenzte Möglichkeiten verspricht, die Kultur der Zapoteken mit ihren Traditionen und ihrer eigenen Rechtsprechung gegen die Gangs mit ihrem Turbo-Machismo und dem Traum vom schnellen Geld, und schließlich die völlig entgegengesetzten Protagonisten: Mateo, der erst in der Jugendgang merkt, wie stark er in die Dorfstrukturen und seine Familie eingebunden ist, und Bandenchef Danny, der einsame Wolf ohne Bindung, der sich rücksichtslos gegen alle durchsetzen und Mateo vernichten will.
Das sind Versatzstücke vieler Ganggeschichten, klassische Antagonismen, die Grundlage für einen konventionellen Genrefilm sein könnten. Aber der Regisseur Damian John Harper ist ein Wanderer zwischen den Welten. In seiner Heimat Colorado studierte er Anthropologie und lernte auf Studienreisen die mexikanische Kultur kennen. In den abgelegenen Bergtälern hinter der südmexikanischen Stadt Oaxaca stieß er dabei auf das Dorf Santa ana del Valle. Er blieb ein Jahr dort, schloss Freundschaften, lernte die zapotekische Kultur genauer kennen und kehrte auch in den Folgejahren immer wieder zurück. Sein Debütfilm beruht „auf einer 14-jährigen Freundschaft und einer genauen Beobachtung“ (Harper). Die Protagonisten spielen sich selbst; die Handlung beruht auf zahlreichen Geschichten, die die Dorfbewohner, unter ihnen auch Mitglieder lokaler Jugendbanden, selbst erlebt haben. Das Resultat ist eine beeindruckende Nähe zu den Figuren und deren Alltag. Der Film lebt insbesondere von der Spannung zwischen den gängigen Gang-Plots und der Ruhe sowie einem fast dokumentarischen Realismus, der die Banalität konventioneller Genreware von vornherein verhindert. Dazu trägt auch die fast dokumentarische Kamera von Friede Clausz bei, die immer dicht an den Protagonisten bleibt. In seiner Nähe zu den Protagonisten ist „Los Ángeles“ aber auch ein Dokument einer verschwindenden indigenen Kultur mit ihren ausgeprägten basisdemokratischen Strukturen; en detail verweist der Film über den dörflichen Mikrokosmos hinaus unspektakulär auf die Probleme, die derzeit die mexikanische Gesellschaft zerreißen.