Im Jahr 1915 läuft es für das Osmanische Reich nicht sonderlich gut. Gerade sind die Engländer bei Gallipoli gelandet; die armenische Minderheit kann sich nicht länger distanzieren. In aller Frühe kommen die Häscher und holen Nazaret, den jungen armenischen Schmied. Am Abend zuvor hatte er noch unbeschwert gefeiert; zuvor hatte man glückliche, in strahlendes Sonnenlicht getauchte Menschen gesehen; auch sonst scheint zu Beginn von „The Cut“ alles ein bisschen zu glatt und zu fröhlich, so als ob das Glück besonders akzentuiert werden müsste, um das Unglück um so schlimmer erscheinen zu lassen. Nun ist der Mann, der nach der Geburtsstadt Jesu benannt ist, als Christ und als Armenier zum Außenseiter und Sündenbock gestempelt.
Der Massenmord an den Armeniern ist in der Türkei bis heute ein Tabu, obwohl es die verschiedensten politischen Lager für sich ausschlachten wollen. Fatih Akin dagegen will ihn erzählen. Er lässt die Welt des Nahen Ostens um 1918 wiederauferstehen und pickt eine einzelne Geschichte heraus. Sie ist zwar schrecklich, aber sie handelt vom Überleben. Von einem Schicksal, das günstiger verlief als das von Hunderttausenden. Dafür hat Akin umfangreich recherchiert. Das Ergebnis ist ein differenziertes Geschichtspanorama. „The Cut“ ist episch, bilderstark und unbedingt für die große Leinwand inszeniert.
Im Zentrum steht der Schmied Nazaret. Im ersten Teil folgt der Film seiner persönlichen Passion und schildert aus seinen Augen die Innenansicht der Massenmorde. Die zweite Hälfte zeigt Nazarets verzweifelte Suche nach seinen Töchtern, die sich über drei Kontinente hinweg zur Odyssee eines Heimatlosen wird. Am Ende findet Nazaret eine von ihnen – das kleine Glück im großen Schrecken.
Stilistisch ist der Film nicht sonderlich verwegen, Mainstream-Kino fürs große Publikum. Dafür wird das ambitionierte Thema mitunter weichspült und auf simple Muster heruntergebrochen.
Politisch aber ist „The Cut“ ein vielschichtiges Drama, mutig und klug. Deutlich zeigt Akin die Verbrechen, er benennt und beschönigt nicht. Doch er achtet auf die feinen Unterschiede. So wird sehr deutlich herausgearbeitet, dass die Morde aufs Konto der politischen Führung gingen. Auch weist der Film auf die Verstrickung der Deutschen hin, die mit den Osmanen verbündet waren. Schließlich zeigt Akin auch eine Gruppe türkischer Deserteure; ein weiterer Tabubruch, denn in der Türkei ist es nicht möglich, offen über die Angst vor dem Krieg zu sprechen. Zugleich aktualisiert Akin das Thema, da er eine gegenwärtige Geschichte erzählt, von Flüchtlingen, Migranten und einer multikulturellen Gesellschaft.
Nicht immer ist „The Cut“ allerdings so differenziert: Die Armenier sind stets fürsorglich, human und noch im Tod solidarisch und liebevoll. Kein dunkler Charakterzug trübt das Bild, kein Verräter oder Kollaborateur. Mehr Grautöne hätten dem Film gut getan.
Der Gesamteindruck wird auch durch den Hauptdarsteller getrübt: Tahar Rahim spielt mit dem immergleichen Ausdruck. Wie ein armer Tor wandert Nazaret durch das Grauen der Welt, innerlich wie äußerlich scheinbar unberührt. Es gibt kein Trauma. Dass er das alles erlebt haben soll, glaubt man ihm keine Sekunde. Zudem hat die Figur immer Glück; er verliebt sich nicht, hat keine Freunde, aber auch keine Laster und Schwächen. Er ist einfach da und besessen davon, seine Töchter zu finden. Für ein Epos von zweieinhalb Stunden ist das zu wenig.
Akins „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie (nach „Gegen die Wand“
(fd 36 389) und „Auf der anderen Seite“
(fd 38 349)) ist damit vollendet. Doch vom Teufel sieht man in „The Cut“ nicht viel. Dennoch hat der konventionelle, aufs breite Publikum zielende Zugang Vorteile: Im Gewand epischer Unterhaltung schmuggelt das Road Movie brisante Botschaften auf die Leinwand: Es bricht mit einem Tabu und rückt die Leiden des armenischen Volkes ins Zentrum der Aufmerksamkeit.