Drei Männer, eine Art Bürgerwehr, ziehen mit Gewehr, Pistole und Speer in den Wald, um einen Landstreicher zu töten, der in einer Erdhöhle haust. Doch dem unrasierten Waldbewohner gelingt die Flucht. Unterwegs warnt er zwei weitere, ebenfalls unter der Erdoberfläche ruhende Gestalten, die sich ihm anschließen. Der Zuschauer, der die Vorgeschichte dieser Hetzjagd nicht kennt, nichts über die Verfolger und die Verfolgten weiß, ist vom Äußeren des Höhlenmenschen zwar befremdet, mehr aber noch von der Brutalität der Jäger: Wer ist hier gut und wer ist böse? Gibt es diese Polarität überhaupt? Oder ist alles nicht viel komplizierter
Der Mann, der aus dem Untergrund nach oben getrieben wird, heißt Borgman und mit Vornamen Camiel, was von fern an die Engel Damiel und Cassiel aus Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“
(fd 26 452) erinnern könnte. Sollte etwa auch dieser Camiel ein Engel sein? Vielleicht eine Art Bruder jenes namenlosen himmlischen Gastes, der in Pier Paolo Pasolinis „Teorema“
(fd 15 863) eine Mailänder Kapitalistenfamilie heimsucht und letzten Endes die Erkenntnis bewirkt, dass die Gesellschaft nicht mehr zu retten ist? Alex van Warmerdam, der bildmächtige Provokateur unter den niederländischen Regisseuren, spielt mit solchen Bezügen zur Filmgeschichte, verbeugt sich vor den bourgeoisie-kritischen, satirisch grundierten Parabeln eines Luis Buñuel und weiß eine ähnliche morbide Spannung aufzubauen wie Michael Haneke in „Funny Games“
(fd 32 731). Wie die beiden jugendlichen Eindringlinge bei Haneke setzt sich auch Camiel Borgman, gemeinsam mit seinen Begleitern und zwei geheimnisvollen Hunden, in einer bürgerlichen Familie fest, belagert deren Villa und den schönen Garten, macht sich die Frau gefügig und manipuliert die Kinder, bis hin zu jenem rätselhaften, verstörenden Finale, in dem der Engel – oder der Teufel? – mitsamt seiner nun größer gewordenen Entourage wieder im Wald verschwindet.
Als Borgman anfangs an der Tür klingelt, mit dem unschuldigen Satz, er sei nur ein Reisender, der sich waschen möchte, steht freilich längst nicht fest, wohin sich die Dinge entwickeln. In Marina, der jungen Frau, provoziert er erst Schuld („Unser Glück wird jetzt bestraft“), dann bisher ungekannte Lustgefühle; ihr Mann Richard, ein Fernsehproduzent, reagiert aggressiv. Sehr schnell wird deutlich, dass die Villa auf schwankendem Boden steht, das vermeintliche Glück nur geliehen ist. So wie Borgman aus dem Untergrund nach oben getrieben wurde, setzt seine Anwesenheit nun auch in Richard die tiefliegenden Schichten des Bösen frei: Unter der bürgerlichen Oberfläche, hinter dem feinen Anzug schlummern Gespenster der Gewalt, der Frauenverachtung, des Rassismus. Und die Kinder, einschließlich ihrer jungen dänischen Betreuerin, werden mit Märchen verführt. Was hinter verschlossenen Türen mit ihnen geschieht, in Zimmern, die sie dann mit einer Narbe auf dem Rücken verlassen, bleibt ein Fragezeichen: Ist es das Gen der willenlosen Folgsamkeit, das ihnen von Borgman und seinen mörderischen Kumpanen eingepflanzt wird? Man vermutet es, aber Genaues weiß man nicht.
„Borgman“, dessen Überhöhungen völlig real inszeniert sind, oft bedrohlich leise und ohne jedes tricktechnische Brimborium, ist offen für viele Deutungen. Van Warmerdam gibt keine Richtung vor, in die der Film konkret zu interpretieren sei. Dadurch unterscheidet er sich von einem sozial genau konturierten Drama wie Andrej Swjaginzews „Elena“, in dem eine ehemalige Krankenschwester, die mit einem ihrer reichen Patienten verheiratet ist, ihre arme Familie in dessen Luxusappartement holt, das Subproletariat also das Bürgertum überrennt und sich dessen Besitztümer aneignet. So oder so ähnlich könnte auch „Borgman“ gemeint sein: Die „von unten“ machen denen „da oben“ den Garaus. Und weil sie es nicht anders vorgelebt bekommen haben, radieren sie ohne Skrupel aus, was sich ihnen in den Weg stellt; ein zunächst schleichender Prozess, der in die Katastrophe mündet.
Die diffuse Angst, die von Borgmans Feldzug ausgeht, wird bei van Warmerdam – anders als in „Funny Games“ – immer wieder durch makabren Humor gebrochen; ein Gesellenstück des Abstrusen ist es, wie der Gärtner der Familie und seine Frau auf absonderliche Weise entsorgt werden. Als neue Anwärter auf den Gärtnerjob schickt Borgman später einige Migranten vor und stachelt so den Rassismus des Villenbesitzers an. Das Ungefähre an „Borgman“, sein diffuses Klima der Bedrohung und des Ausgeliefertseins, ohne sich wehren zu können, ist – neben aller dramaturgischen Stringenz und der hohen Kunstfertigkeit der Darsteller – aber auch eine Schwäche des Films: Er bleibt doch sehr im Allgemeinen verhaftet, hinterlässt ein mulmiges Gefühl, über dessen Ursache zwar viele Vermutungen angestellt werden dürfen, ohne dass wirkliche schmerzhafte Widerhaken ins Fleisch einer satten, ungerechten Gesellschaft gesetzt werden.