New York, Moskau, Peking: verwüstete Städte, in denen einzig Hochhaus-Skelette herausragen. Übergroße Kampfroboter, von fliegenden Quadern freigesetzt, haben fast die gesamte Welt zerstört. Die wenigen überlebenden X-Men harren unter der Erde aus und führen einen aussichtslosen Kampf. Denn die Roboter sind ihnen hoffnungslos überlegen. Der Grund: Agenten unter Führung von Dr. Bolivar Trask haben im Auftrag der US-Regierung Raven alias Mystique – wie schon in „X-Men: Erste Entscheidung“ von Jennifer Lawrence verkörpert – getötet und mit ihrer DNA den perfekten Maschinenmenschen geschaffen. Einzige Lösung: Man müsste nachträglich Mystiques Tod verhindern. Und so befördert Kitty Pryde mit ihren besonderen Fähigkeiten Wolverines Bewusstsein in sein Ich des Jahres 1973. Allerdings braucht er Unterstützung, und so muss er zunächst den jungen Charles Xavier (James McAvoy) und den jungen Magneto (Michael Fassbender) ausfindig machen. Doch der eine hat sich enttäuscht zurückgezogen und ahnt noch nichts von seiner zukünftigen Bedeutung; der andere soll John F. Kennedy ermordet haben und sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis tief unter dem Pentagon, aus dem er erst von Wolverine, Xavier, Hank alias Beast und dem blitzschnellen Quicksilver befreit werden muss. Jetzt müssen die X-Men nur noch Mystique finden. Doch auch Trask, der innerhalb der Nixon-Administration geschickt die Ängste gegen die Mutanten zu schüren weiß, ist ihr auf den Fersen.
Was passiert, wenn Comic-Welt auf Realität trifft? Dürfen sich Superhelden mit wahren mächtigen Männern vom Schlage eines John F. Kennedy messen? Oder führt diese Allianz von Fantasie und Wirklichkeit zwangsläufig zu einem Spannungsdefizit? „X-Men: Erste Entscheidung“ hatte diese Fragen nicht ganz beantwortet. Die Idee, die reale Kubakrise, in der sogar Kennedys berühmte Rede in Wort und Bild zitiert wird, in eine fantastische Comic-Handlung einzubetten, nahm dem Film viel von seiner erzählerischen Freiheit. Doch durch das seit „Zurück in die Zukunft“ so beliebte Motiv der Zeitreise, bei der die Vergangenheit geändert werden muss, um die Zukunft zu retten, erhält der neue Film einen unerwarteten Twist. Regisseur Bryan Singer, der bereits die ersten beiden „X-Men“-Filme inszeniert und den letzten co-produziert hatte, vermeidet dabei die logischen Brüche, die andere Zeitreisefilme ignorieren, indem er eine andere Lösung findet. Denn hier reist nur das Bewusstsein, nicht der Körper. Das führt zwangsläufig dazu, dass Wolverine, der als Einziger mit seinen selbstheilenden Kräften eine derartige Zeitreise überstehen würde, eine tragende Rolle zukommt. Er muss seine Ungeduld, seinen Zorn und seine Kraft zügeln, um nicht in die Gegenwart zurückzufallen. Mit seinem Wissen um die düstere Zukunft wird er so zur handlungstreibenden Kraft und macht dabei eine vom Drehbuch schlüssig gezeichnete Charakterwandlung durch. Interessante Folge: Das Mentor/Sohn-Verhältnis zwischen Xavier und Wolverine kehrt sich um, während die Beziehung zwischen Xavier und Magneto höchst kompliziert bleibt. „X-Men: Zukunft ist Vergangenheit“ berührt dabei noch einmal bekannte Diskussionen um Normalität und Andersartigkeit, Ängste und Hass, Akzeptanz und Diskriminierung. Die Menschheit braucht die Mutanten, so die schlichte Erkenntnis, die auch schon die Vorgänger prägte. Der Vietnamkrieg, Richard Nixon und der Showdown vorm Weißen Haus verorten den Film dabei eindeutig in eine (im Übrigen mit liebevoller Nostalgie rekreierte) Zeit, die von politischen Protesten und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt war und so eine zweite Lesart des Films zulässt. Eingebettet hat Bryan Singer diesen Überbau in ein Action-Spektakel, das er mit viel Sinn für Ironie und verhaltenem, nicht zu dominanten 3D gestaltete. So hält Quicksilver zum Song „Time in a Bottle“ bei der Befreiung Magnetos förmlich die Zeit an, um zielgerichteten Revolvern, abgefeuerten Kugeln und hochgehaltenen Fäusten noch eine andere Richtung zu geben. Zeit ist eben relativ. Und auf die Zukunft kein Verlass.
Brian Singer hat die Kinoversion zum "Rogue Cut" erweitert:
Eigentlich hält er nichts von nachträglich herausgebrachten Langfassungen. Doch auch ein Bryan Singer kann einmal seine Meinung ändern. »X-Men: Zukunft ist Vergangenheit« war, bevor er 2014 mit 132 Minuten in die Kinos kam, bedeutend umfangreicher. Singers Verfilmungen aus dem Marvel-Universum gelten als die besten, u.a. weil er sich Zeit genommen hat, seinen Superhelden auch eine innere (Charakter-)Tiefe einzuhauchen. Nicht durch Kämpfe, sondern durch Konversation. Gut fünfzehn Minuten dieser Konversationen (plus zwei Minuten Action) sind aus »Zukunft ist Vergangenheit« rausgeflogen. Konversationen innerhalb der X-Men und zwischen Wolverine und dem jungen Charles Xavier. Konversationen, die auch Mutanten greifbarer machen. Zudem bekommt die Rogue aus den ersten Teilen auch in der fünften Fortschreibung mehr Gewicht (daher der Name). Im Audiokommentar von Singer und seinem Cutter, Komponisten und Seelenverwandten John Ottman bekommt man einen guten Eindruck von den Beweggründen für die Rücknahme der Schnitte des Kinofilms. Ist es ein anderer Film geworden? Nein, aber in der Tat ein besserer, weil die guten Schauspieler jetzt gegen mehr als nur die Effekte kämpfen. Zudem ist die stereoskopische Dimension verschwunden. Auch keine schlechte Idee! (Autor: Jörg Gerle)