Falls sich Robert Redford in seiner Laufbahn jemals mit einer seiner Leinwand-Figuren identifiziert hat, dann war es wohl Jeremiah Johnson in dem gleichnamigen Film von Sydney Pollack. Der Trapper Johnson, der Anfang des 19. Jahrhunderts aus Abneigung gegen die Auswüchse der Zivilisation in die Wildnis der Rocky Mountains flüchtete und dort ein auf sich gestelltes Leben führte, kommt einem angesichts von „All Is Lost“ unweigerlich in Erinnerung. 40 Jahre nach „Jeremiah Johnson“
(fd 18 030) spielt Redford wieder einen Mann, der auf sich selbst angewiesen ist, in einer selbst gewählten majestätisch-feindseligen Umgebung. Diesmal ist es das Meer, dessen Weite und Gefahren sich der Protagonist ausgeliefert hat. Wie einst bei Jeremiah Johnson weiß man nichts von seiner Vergangenheit außer den Schlüssen, die man aus seiner teuren Segelyacht und deren Ausstattung ziehen kann. Der Skipper ist ein alter, aber immer noch kraftvoller Mann. Warum er ausgerechnet im Indischen Ozean mutterseelenallein herumschippert, erfährt man nicht, ebenso wenig, wohin die Reise gehen soll. Was seine Motive sind und was er denkt, bleibt verschlossen, denn der Mann, der nicht einmal einen Namen hat, redet nicht. Zu Beginn des Films verliest er aus dem Off einen Abschiedsbrief, danach hört man ihn einmal fluchen und vergeblich einen SOS-Ruf absetzen – aber das ist dann schon alles, was man explizit aus seinem Mund über ihn erfährt. Je länger der Film dauert, umso mehr ist es der Zuschauer, der da an Bord ist und sich – von Szene zu Szene hoffnungsloser – um sein Überleben kämpfen sieht.
J.C. Chandor, dessen Debütfilm „Margin Call“
(fd 40 663) vornehmlich vom Dialog lebte, hat sich als Autor und Regisseur jede Möglichkeit verweigert, Hintergründe und individuelle Charakteristika als Futter für das Publikum zu benutzen, und ihm Ausreden zu gestatten, nicht selbst dieser Mann im Boot zu sein. Wo Hemingway und Melville starke, unverwechselbare Figuren entwarfen, beharrt Chandor darauf, dass der Zuschauer das Vakuum ausfüllt. Identifikation, die für das Funktionieren dramatischer Geschichten so ungeheuer wichtig ist, wird in „All Is Lost“ gleichsam auf die Spitze getrieben.
Der in den Schlusstiteln nur als „Our Man“ bezeichnete Held lässt keine Möglichkeit zu, an seinem Schicksal nicht Anteil zu nehmen. Nie hätte ein in seinen künstlerischen Mitteln so minimalistischer Film so viel Aufmerksamkeit und Spannung bei der Beobachtung alltäglicher Verrichtungen und zunehmend überlebenswichtiger Verhaltensweisen wecken können, wenn man sich als Zuschauer nicht in der Haut und in der Zwangslage dieses Mannes fühlen würde, dessen Segeltörn immer katastrophalere Ausmaße annimmt.
Ein herrenlos im Ozean treibender Container schlägt ein Leck in die Schiffswand; ein Sturm zerstört alles, was die Yacht manövrierbar macht; das Schlauchboot als letzte Zuflucht und die an den Sternen orientierte Navigationskunst des am Ende seiner Kräfte angelangten Mannes verblassen und verschwinden angesichts der endlosen Weite des Ozeans. Wir werden Zeuge, wie es unaufhaltsam dem Ende zugeht. Die letzte Hoffnung, dass eines der riesigen Containerschiffe, die auf der Straße von Sumatra unbeirrt ihren Kurs verfolgen, das winzige Rettungsboot sehen könnte, erstirbt mit dem verlöschenden Licht der letzten Rakete.
Wir sind allein gelassen mit dem Mann, dessen Überlebenswille und dessen Durchhaltekraft zu Ende gehen. Da sind nur noch der hilflose, entkräftete Mensch und die endlose Wasserfläche. In den Katastrophenfilmen der 1970er-Jahre würde nun der „deus ex machina“ die Regie übernehmen, in den Event-Filmen der Jetztzeit der Held seine übernatürlichen Kräfte unter Beweis stellen. Auch „All Is Lost“ ist auf seine leise, eindringliche Weise eine Art Parabel auf den individuellen Heroismus, aber der Raum für große Taten wird immer enger, die Selbstbestimmbarkeit des Lebens immer fragwürdiger angesichts einer unbarmherzigen Natur. Die Einsamkeit überwältigt alle angeborenen und angelernten Fähigkeiten. Filmemacher wie Stanley Kubrick, Michelangelo Antonioni und Darren Aronofsky haben versucht, für diese Einsamkeit filmische Entsprechungen zu finden. Der Schluss von „All Is Lost“ weist in seiner allegorischen Mehrdeutigkeit in dieselbe Richtung.