Es ist nur ein Zettel mit ihrem Namen darauf. Trotzdem hat das Stück Papier für die zwölfjährige Wadjda Bedeutung. Auf einem Bild an der Wohnzimmerwand ihres Elternhauses in Riad ist ein Stammbaum ihrer Familie zu sehen. „Du stehst da nicht drauf, da sind nur die Männer“, sagt ihre Mutter. Wadjda entgegnet nichts. Aber sie schreibt sich mittels des Zettels einfach selbst in die Familiengeschichte hinein, indem sie ihn an den „Ast“ ihres Vaters pinnt. Wenig später hat jemand das Papier wieder abgerissen.
Der Film der Regisseurin Haifaa Al Mansour über ein Mädchen, das sich nicht den Schneid abkaufen lässt, ist selbst so etwas wie ein weiblicher Zettel in einer Geschichte, in der Frauen bisher wenig zu melden hatten: ein Film von einer saudi- schen Frau, ganz fokussiert auf weibliche Figuren. „Wadjda“ ist zudem der erste Film, der komplett in Saudi-Arabien gedreht wurde – als Co-Produktion mit einer deutschen Crew, aber mit einem rein saudischen Cast. Das war der Regisseurin wichtig, um ihren Film „authentisch zu erzählen, ihm die korrekte lokale Tonalität“ zu verleihen.
Tatsächlich kombiniert „Wadjda“ sehr geschickt die Beobachtung der saudischen Lebenswelt mit Erzählmus- tern, die sich die an der University of Sydney ausgebildete Regisseurin bei westlichen Vorbildern abgeschaut hat. Die dramaturgische Vorlage liefert der US-amerikanische Sportfilm: ein „Underdog“ verfolgt gegen alle Widerstände seinen Traum, trainiert hart und triumphiert schließlich über alle Widerstände. Wobei der Traum, den die von Waad Mohammed grandios gespielte Wadjda verfolgt, grün ist, einen Lenker und zwei Räder hat. Es handelt sich um ein Fahrrad, mit dem sie sich gerne ein Rennen mit ihrem Freund, dem Nachbarsjungen Abdullah, liefern würde.
Der Haken daran: Fahrradfahren gehört sich nicht für saudische Mädchen, weswegen sich Wadjdas Mutter weigert, das Rad zu kaufen. Wadjda aber ignoriert das Verbot souverän und macht sich daran, das Geld für das Rad selbst aufzutreiben. Als die gestrenge Rektorin ihrer Schule den kleinen Geschäften, die Wadjda auf dem Schulhof tätigt, einen Riegel vorschiebt, sieht sie nur einen Ausweg: Sie meldet sich für einen Koranwettbewerb an, da das Preisgeld locker für das Rad reichen würde. Doch weil ihr Rockmusik eigentlich näherliegt als die richtige Intonation der Koransuren, steht ihr ein hartes Stück Arbeit bevor.
Die Innenansichten, die Al Mansour von ihrem Heimatland liefert, zeichnen eine zutiefst paradoxe Gesellschaft, bei der Tradition und moderne Lebensansprüche schon lange nicht mehr zusammenpassen: Die strengen Verhaltensregeln, die die wahabitische Richtung des Islam den Bewohnern (und vor allem den Bewohnerinnen) auferlegt, lässt der Film so „aufgesetzt“ und unzeitgemäß wirken wie die Abaya bzw. der Hijab, den die Frauen über ihre Jeans und andere moderne Kleider stülpen, sobald sie das Haus verlassen.
Al Mansour vermeidet es aber, die Frauen als „Opfer“ einer Männergesellschaft darzustellen; sie zeigt sie vielmehr als Mitverantwortliche. Die Rolle des gestrengen Sittenwächters übernimmt ausgerechnet die erzkonservative Schuldirektorin: Sie, die für die Bildung verantwortlich ist und damit eine wichtige Rolle bei der Stärkung der jungen Frauen spielen könnte, tut alles, um Freiheitsbestrebungen im Keim zu ersticken; sogar lautes Lachen gilt bei ihr als unangemessen.
Wadjdas Mutter ist als komplexere Figur angelegt, die ihrerseits zwischen der Unterordnung unter das traditionelle Frauenbild und der Unzufriedenheit mit ihrer Situation schwankt. Sie muss im Laufe des Films erst lernen, sich selbst zu behaupten und ihre Tochter zu unterstützen, anstatt sie zu maßregeln. Gerade ihre Figur, verkörpert von der saudischen Schauspielerin Reem Abdullah, sorgt dafür, dass der Film die Balance zwischen unterhaltsamem Spannungskino und klugem Gesellschaftsporträt schafft. Denn die an sich strahlende Frau wird durch ihre Lebensumstände ständig „heruntergedimmt“. Sie ist zwar berufstätig, was in einem Land, in dem nicht einmal 20 Prozent der Frauen arbeiten, durchaus fortschrittlich ist –, doch dafür muss sie viele Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Die Anfahrt zu ihrem Job kann sie nur mit Hilfe eines Fahrers bewältigen, da Frauen das Autofahren verboten ist; mit dem Chauffeur gibt es aber ständig Querelen. Die weite Strecke ist andererseits notwendig, weil es in der Nähe keinen Arbeitsplatz gibt, an dem die Trennung der Geschlechter garantiert ist. Diese will die Mutter aber unbedingt gewahrt wissen, um ihren Ehemann nicht eifersüchtig zu machen. Denn das Verhältnis zu ihm ist problematisch; er taucht nur noch selten auf und denkt darüber nach, eine Zweitfrau zu nehmen, weil sie keine weiteren Kinder bekommen kann.
Das Schicksal dieser Frau, die sich täglich ausgebremst sieht, sich selbst aber auch kaum Handlungsspielraum zugesteht, liefert die realitätsnahe Folie, vor der die Willensstärke, der Bewegungsdrang und die Energie der Tochter umso imposanter wirken. „Wadjda“ ist nicht zuletzt ein Plädoyer dafür, dass es sich Saudi-Arabien nicht mehr länger erlauben kann, diese Energiequelle weiter zu vergeuden.